Im Mittelpunkt unserer Gottesdienste steht die Predigt. Sie soll nach unserem Verständnis in erster Linie theologisch fundierte Schriftauslegung sein. Texte der hebräischen Bibel („Altes Testament“) kommen im Gottesdienst ebenso zu Wort wie die der Apostolischen Schriften („Neues Testament“). Gebete, Psalmen und Lieder beziehen sich auf das theologische Thema der Predigt. Kennzeichen der französisch-reformierten Tradition im Gottesdienst sind die Eröffnung des Gottesdienstes durch ein Gemeindemitglied (Lecteur / Lectrice) und die Verlesung der Zehn Worte der Weisung Gottes (Zehn Gebote) sowie der "Summe des Gesetzes". Als Lehrtext werden im Gottesdienst neben den traditionellen Bekenntnistexten (Confession de foi, Heidelberger Katechismus, Barmer Theologische Erklärung) zunehmend neuere Bekenntnisformulierungen vorgelesen.

Gedanken zu den Monatssprüchen

Mai 2024

„Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient mir zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“ (1. Kor 6,12)

„Alles ist mir erlaubt“. Das könnte eine Umschreibung dessen sein, was wir Freiheit nennen. Ich darf alles…: alles tun, alles denken, alles sagen, alles essen, alles trinken, alles genießen. Niemand darf mir etwas verbieten, niemand kann mich hindern. Alles ist mir erlaubt. Wir wollen frei sein. Frei in unseren Gedanken, in unseren Worten, in unseren Entscheidungen. Das ist ein wesentlicher Teil unserer Würde. 
Gleichzeitig wissen wir, dass diese Freiheit an Grenzen stößt und vielen Bedingungen unterliegt, die sie einschränken. Paulus wagt den Satz: „Alles ist mir erlaubt“, kann ihn aber nur verantworten, indem er sofort ein „aber“ anfügt: „ ... aber nicht alles dient mir zum Guten“. Selbst wenn ich alles tun und sagen könnte, was ich tun und sagen möchte, sollte ich nicht alles tun und sagen. Unsere Freiheit ist begrenzt. Im Zusammenleben der Menschen wird die Freiheit des einen durch die Freiheit des anderen begrenzt. Deshalb gibt es Regeln, Verbote und Gebote, die das Zusammenleben regeln, in der Familie, am Arbeitsplatz, im Staat. Nur der Eremit in der Wüste, in dessen Umfeld kein weiterer Mensch lebt, kann den Satz: „Alles ist mir erlaubt“ uneingeschränkt sagen. Alle anderen Menschen müssen Einschränkungen ihrer Freiheit in Kauf nehmen. 
Die meisten Menschen orientieren sich an Normen, an Geboten und Verboten. Es ist erwiesen, dass die Furcht vor Bestrafung bei Übertretung der Ge- oder Verbote am wirksamsten ist. Ohne „Blitzer“, „Knöllchen“ und Bußgelder würden die Verkehrsregeln noch viel weniger beachtet werden. 
Paulus traut uns allerdings eine höhere Form an Moralität zu. Nicht die Orientierung an Vorschriften sowie die Furcht vor Bestrafung bei Übertretung soll unser Tun und Lassen leiten, sondern die eigene Beurteilung des Guten, also das Handeln aus eigener Verantwortung. Ich tue oder unterlasse etwas nicht deshalb, weil andere es mir vorschreiben oder verbieten, sondern ich tue oder unterlasse etwas, weil ich mich davon überzeugt habe, dass es gut ist, es zu tun oder zu lassen. 
Paulus nennt noch ein weiteres Kriterium moralischen Urteilens, das ebenso anspruchsvoll ist: die innere Freiheit. Der Satz „alles ist mir erlaubt“ kann nämlich auch auf eine Haltung hinauslaufen, die man Hedonismus nennt, also die Orientierung allein an dem, was mir Lust bereitet. Wer sich danach orientiert, läuft Gefahr, von dem abhängig zu werden, was die Lust steigert. Stoffliche und nichtstoffliche Abhängigkeiten können uns mehr versklaven als alles andere. Wer einer Sucht anheimgefallen ist, bei dem verkehrt sich der Satz „Alles ist mir erlaubt“ zur größten Unfreiheit. Deshalb fügt Paulus dem Satz „Alles ist mir erlaubt“ ein zweites notwendiges „Aber“ hinzu: „Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich“. 
Christliche Freiheit zu leben ist also ein anspruchsvolles Vorhaben, so anspruchsvoll, dass Martin Luther es in seiner programmatischen Freiheitsschrift nur in zwei sich scheinbar widersprechenden Thesen definieren konnte: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Jürgen Kaiser

April 2024

„Seid stets bereit, Rede und Antwort zu stehen, wenn jemand von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist.“ (1. Petr 3,15)

Wann hat Sie zuletzt jemand gebeten, über die Hoffnung, die in Ihnen ist, Rede und Antwort zu stehen, gar Rechenschaft abzulegen? Mich zumindest hat diese Aufforderung so noch nie erreicht und damit stehe ich vermutlich nicht alleine da. 
Die Gemeinden, an die sich dieser 1. Petrusbrief richtet, haben da anderes erlebt. Als erste Christen gehören sie zu einer neuen religiösen Bewegung, die staatlichen Repressalien ausgesetzt ist und von vielen Zeitgenossen kritisch bis ablehnend betrachtet wird. Was hat es mit dieser, deiner Hoffnung auf sich, dass es sich lohnt dafür abgelehnt oder sogar verfolgt zu werden? Die Adressatinnen des 1. Petrusbriefes konnten an diese Frage wohl mit ihren Alltagserfahrungen andocken.
Und wir? Lassen wir uns doch mal darauf ein. Wie wäre das, wenn jemand Sie bitten würde, Rede und Antwort zu stehen, Rechenschaft abzulegen – nicht über Ihre Kirchenmitgliedschaft, Ihre konfessionelle Zugehörigkeit, Ihre Tradition, die vermeintliche Unvereinbarkeit von Glaube und Vernunft oder gar Glaube und Moderne. Diese Gespräche kennen wir wohl alle zur Genüge. Mühsam können Sie sein, kräftezehrend und selten liegt ihnen ein ehrliches Diskursinteresse zu Grunde. Unser Vers spricht aber von etwas Anderem. Von der Hoffnung. Die Hoffnung, die in uns ist und über die wir Rede und Antwort stehen sollen. Was würden Sie also sagen? Wie würden Sie antworten? Was hat es mit dieser Ihrer christlichen Hoffnung auf sich?
Ich denke, Hoffnung lebt davon, über das Bestehende, über den Horizont hinausblicken zu können auf das, was noch nicht ist aber noch werden soll und werden wird. Unsere Hoffnung auf Gottes Eingreifen in die Welt setzt auf einen Gott, der unsere Grenzen überwindet und für den nichts so bleiben muss wie es ist. Die Bibel ist voll von solchen Hoffnungsgeschichten. Ich denke an den grünen Zweig im Schnabel der Taube. Sie soll Noah und seiner Familie zeigen: Euer Horizont von engen Schiffwänden und todbringendem Wasser ist noch nicht alles. Mitten in der lebensfeindlichen Gegenwart wächst schon wieder neues Leben, eine neue Zukunft. Ich denke an Ostern. Daran, dass der menschliche Horizont, der am Karfreitag am Kreuz endete, durchbrochen wird: Der Tod hat nicht das letzte Wort. Bei Jesus nicht und bei uns auch nicht. Hinter dem Horizont geht es weiter. Das ist doch die Hoffnung, die in uns lebt und die wir als Christ*innen in uns tragen.
Vielleicht müssen wir gar nicht darauf warten, bis uns jemand anspricht und Rechenschaft von uns einfordert. Vielleicht können wir vielmehr darauf setzen, dass das, was in uns ist und was uns trägt, nach außen kommt. Dass unsere Hoffnung für andere hörbar und auch sichtbar wird. Eine Hoffnung, die von der Überzeugung lebt, die Gegenwart zum Guten verändern zu können, ist es wert, nicht im Selbstgenuss aufzugehen, sondern kommuniziert zu werden. Auch heute. Senta Reisenbüchler

März 2024

„Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier.“ (Markus 16,6)

In aller Frühe gehen die Frauen zum Grab, um seinen Leichnam zu salben. Das Grab ist offen. Sie erschrecken. Da hilft es auch nicht, dass im Grab ein junger Mann sitzt und sagt: „Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier.“ Dieser Satz nimmt den Frauen keineswegs den Schrecken. Im Gegenteil: Sie fliehen mit Zittern, Entsetzen und Angst. 
So endet das Markusevangelium in allen älteren Handschriften. Mit drei Wörtern, die Angst, Entsetzen und Furcht zum Ausdruck bringen. Die Verse, die in unseren Bibeln noch danach kommen, sind nachweislich nicht von Markus, sondern später hinzugefügt worden. Markus wollte kein Happy End. Für ihn geht die Geschichte um diesen Jesus von Nazareth, die er erzählt hat, nicht gut aus. Damit, dass einer sagt: Jesus ist auferstanden, ist noch nicht alles gut. 
Mit Ostern ist noch nicht alles wieder gut. Damit, dass Jesus von den Toten auferweckt wurde, hat man ihn nicht einfach wieder. Man muss auch den Auferstandenen erst noch suchen und dann finden. 
Die Frauen suchten einen Toten und fanden ihn nicht. Und einen Lebenden findet man auch nicht bei den Toten. Man muss ihn unter den Lebenden suchen. Markus, der Autor des Evangeliums, der sich möglicherweise in der Figur des jungen Mannes im leeren Grab in seine Erzählung hineinpersonifiziert hat, gibt einen entscheidenden Hinweis: In Galiläa würden sie ihn finden. Das sollen die Frauen den Jüngern sagen. Galiläa ist der Ort der Anfänge. Dort hat alles begonnen, dort sind sie Jesus zum ersten Mal begegnet. Zurückgehen nach Galiläa, das bedeutet, sich erinnern, die Geschichte, die Erlebnisse mit Jesus wieder durchgehen. Sich wieder und wieder mit ihm vertraut machen und immer tiefer in das eindringen, was er gesagt und getan hat. 
Wer sich in den Evangelien mit Jesus vertraut gemacht hat, könnte dem auferstandenen Christus auch in seinem Leben begegnen. Wenn solche Begegnungen geschehen, ist einem selten gleich klar, dass man Jesus begegnet ist. Denn Jesus kommt nicht offensichtlich und erkenbar als Jesus in unser Leben. Mehr als eine Ahnung wird es nicht geben. Und oft nicht einmal das. Aber am Ende aller Tage, wenn wir vor Christus treten und ihn fragen werden: „Wann haben wir dich gesehen?“, wird es klar. Dann wird Jesus uns sagen: „Was ihr einem meiner geringsten Brüdern und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matth 25,40)
Christus ist auferstanden von den Toten. Er ist unter den Lebenden. Dort werden wir ihn finden. Je besser wir ihn in den Evangelien kennengelernt haben, desto leichter werden ihn finden - und zwar gerade dort, wo wir ihn nicht vermutet und gesucht haben. Jürgen Kaiser

Februar 2024

„Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Zurechtweisung, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit.“ (2. Timotheus 3,16)

Belehrung, Zurechtweisung und Erziehung. Viele solcher doch recht sperrigen Formulierungen der Ermahnung und dazu jede Menge Imperative hält der 2. Timotheusbrief für seine Leser*innen bereit. Hinzu kommen die Benennung und Abwertungen von falschen Lehren und Auslegungen, die es abzuwerten und abzuwehren gilt. 
Was hält dieser alte Text also für uns heutige Leser*innen bereit oder pointiert gefragt: Können wir aus diesem Spruch überhaupt etwas für unsere Gegenwart oder gar unseren Alltag extrahieren? Oder ist vielleicht schon diese Frage die falsche?
Es lohnt der Blick auf den größeren Zusammenhang des Texts. Wer schreibt da eigentlich solche Worte und zu welchem Zweck? Wir befinden uns in der frühen Phase der Christenheit: Jesus ist nicht mehr da, Paulus ist bereits verstorben, viele Christ*innen erleben Bedrängnisse aufgrund ihres Glaubens, die Anfangseuphorie schwindet bei vielen, kurzum: Die junge Kirche ist dabei, ihr Profil zu schärfen und eine Identität zu finden, die notwendigerweise Abgrenzungen mit sich bringt. Wer sind wir und was unterscheidet uns von den vielen anderen religiösen oder spirituellen Strömungen und Bewegungen? Der Autor des Briefes empfiehlt in dieser Situation die „von Gott eingegebenen Schriften“, die Halt und Orientierung geben können.
In der evangelischen Christenheit sind diese „von Gott eingegebenen Schriften“, die biblischen Schriften, das Zentrum des Glaubens und des Gottesdienstes und haben ihren festen Kern in der gelebten christlichen Praxis. Da die Schriften Gottes Geist atmen und allesamt niedergeschriebene Erfahrungen sind, die Menschen mit Gott zu unterschiedlichen Zeiten gemacht haben, sind sie dieser Aufgabe gewachsen. Die Autorität der biblischen Schriften besteht also weniger darin glauben zu müssen, was in diesen steht, als vielmehr sie inspirativ zu lesen, als menschliches Dokument erlebter Gotteserfahrungen. Das nimmt den Druck, in jedem Satz oder in jeder Erzählung eine unmittelbare Übertragung auf die eigene Gegenwart vorzunehmen oder gar eine ganz unmittelbare unvermittelte Botschaft zu empfangen. Vielmehr gilt es Spannungen und Widersprüche auszuhalten, ungewohnte Bilder und Vorstellungen stehenzulassen und die Distanz zwischen den biblischen Zeiten und der eigenen Gegenwart nicht zu verwischen. Was sich dann ereignen kann ist keine einfache Gleichsetzung von damals und heute, sondern ein befreites in Beziehung setzen von meinen Gotteserfahrungen heute und den Erfahrungen, die Menschen in den biblischen Geschichten mit Gott gemacht haben. Ein in Beziehung setzen von Erfahrungen der Gottesferne und Gottesnähe in meinem Leben und dem Ringen der biblischen Protagonisten mit Gott. Ich meine in diesem Sinne entfaltet sich das Potenzial und die Kraft, die den biblischen Texten und Erzählungen innewohnt. Auch heute.
Senta Reisenbüchler

Januar 2024

Junger Wein gehört in neue Schläuche. (Markus 2,22)

Jesus war offenbar ein Mensch, der ein paar schlaue Sprüche produziert hat. Man weiß nicht genau, weshalb ihm damals so viele hinterhergelaufen sind, wegen seiner Sprüche oder wegen seiner Heilungen. Mit den Heilungen erreicht er uns heute nicht mehr, mit seinen Sprüchen schon. Einige seiner Sprüche sind aber bis heute rätselhaft. Was will er mit dem Satz vom neuen (oder jungen) Wein in neuen Schläuchen sagen? 
Ich freue mich immer, wenn ich im September und Oktober jungen Wein bekomme, meist „Federweißer“ genannt, je nach Region aber auch „Sau­ser, Suser, Rau­scher, Brau­ser, Bitz­ler oder Sturm“. In Berliner Supermärkten muss man die Kassiererinnen unbedingt darauf hinweisen, dass sie die Flasche auf dem Band nicht hinlegen dürfen, denn Flaschen mit Federweißem sind nicht fest verschlossen. Junger Wein gährt und produziert Gase. Die müssen entweichen können. Aus den Fässern, in die heute der Traubenmost abgefüllt wird, damit er zum Wein reift, können die Gase über Ventile entweichen. In der Antike hat man den jungen Wein in Schläuche aus Tierhaut gefüllt. Das mussten dann neue Schläuche sein, die noch elastisch waren. Alte Schläuche wären geplatzt. Die Winzerei war damals in Israel kein Spezialberuf. Fast jeder machte seinen eigenen Wein. Fast jeder wusste also, dass junger Wein in neue Schläuche gehört. Jesus sagte nichts Neues. Vermutlich wollte er mit dieser Weisheit auch keine Winzertipps geben. Er wollte etwas anderes verdeutlichen. Aber was? 
Im Textzusammenhang der Evangelien geht es um die Frage, warum Jesus und seine Jünger nicht fasten, während andere das tun. Darauf antwortet Jesus mit dem Gleichniswort, dass niemand neuen Wein in alte Schläuche fülle, sondern junger Wein in neue Schläuche gehöre. Die Bibelwissenschaftler (Exegeten) sind sich nicht sicher, ob Jesus das Bildwort vom jungen Wein in alten Schläuchen tatsächlich im Zusammenhang mit der Fastenfrage gesagt hat oder ob es der Evangelist Markus bei der Zusammenstellung seines Evangeliums dorthin gesetzt hat. In jedem Fall deutet das Wort eine revolutionäre Haltung, gar einen revolutionären Anspruch an. Dann würde Jesus damit sagen wollen: ‚Mit mir ist etwas Neues angebrochen, das Reich Gottes ist nahe. Das passt nicht mehr zu den alten Bräuchen und Gewohnheiten.‘ 
Manche von Jesus geprägten Bildworte sind als Sprichworte in unseren Alltagswortschatz eingegangen. Dieses Wort vom Wein und Schlauch allerdings in einer Variante, die den Sinn geradezu umkehrt: „Alter Wein in neuen Schläuchen“. Wer sich dieser Fassung bedient, will sagen: Etwas erscheint neu, ist aber in Wahrheit ein alter Hut, nur in neuer Verpackung. 
Ich empfehle, auf das Original zurückzugreifen. Das ist dann kein alter Hut, sondern eignet sich für jede Art von Revolution. Also eher nicht für den kirchlichen Gebrauch. Aber wer sagen will: ‚Neue Inhalte, neue Töne, neue Klänge brauchen auch neue Formen, neue Strukturen, neue Verpackungen, neue Bräuche. Alles neu!‘, kann sich auf Jesus berufen und in die Menge rufen: „Neuer Wein in neue Schläuche!“ Jürgen Kaiser

Dezember 2023

Meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern. (Lukas 2,30-31)

Er war alt. Seine Augen hatten schon viel gesehen, vieles, was sie lieber nicht gesehen hätten, aber auch Schönes. Er hatte die Wüste blühen gesehen und spielende Kinder und lachende Liebende. Auch Leid hatte er gesehen. Israel war ein besetztes Land, die Römer setzten ihre Herrschaft brutal durch. Auch unter seinen Landsleuten gab es gewalttätige Radikale und korrupte Mächtige. Ihm waren nicht nur spielende Kinder vor Augen gekommen, sondern auch tote Kinder und getötete Liebende. Hoffnung, dass sich das einmal ändern würde, hatte kaum mehr einer. Er hätte seine Augen also für immer schließen und sagen können: Es ist genug. Aber er konnte die Augen nicht schließen. Er hatte noch Hoffnung – gegen allen Augenschein. Er lebte noch. Und da es den wohlfeilen Satz: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ damals noch nicht gab, kam ihm der jetzt nicht in den Sinn, als er den Tempel betrat. Der Lebensfunke leuchtete ihm von woanders her. Er kam von einer Einflüsterung. Er werde den Tod nicht sehen, bevor er den Gesalbten nicht gesehen habe. Das orakelte die Einflüsterung. Er war sich sicher, dass ihm dies ein Geist einflüsterte, der von Gott kam. Also lebte er weiter und wartete. Seine Augen wussten nicht, nach wem sie Ausschau halten sollten, aber seine Seele wusste, dass sie Trost sehen würden. Nicht für sich. Er brauchte keinen Trost mehr. Aber für Israel. Er wartete auf den Trost Israels – gegen allen Augenschein. 
Er geht in den Tempel. Er sieht eine Frau und einen Mann hereinkommen. Sie bringen einen Säugling in den Tempel. Er geht auf das Paar zu. Er nimmt ihnen das Kind aus den Armen. Er betet leise: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.“ 
Simeon wundert sich über diese Worte wie auch ich mich über sie wundere. Nichts hat dieser Säugling an sich, das solch eine Hoffnung an ihm erkennen ließe. Keinen Glanz in den Augen, keine Gloriole um den Kopf. Gewiss, ein bisschen Hoffnung keimt immer auf, wenn ein Kind zur Welt kommt. „Du wirst es einmal besser machen, als wir es gemacht haben!“, sagt man dann. Aber das hier ist mehr, viel mehr! Das hier ist nicht die Hoffnung, die man immer noch irgendwie hat, die Hoffnung, von der man neuerdings ständig sagt, sie sterbe zuletzt, diese traurige und irgendwie verzweifelte Hoffnung; denn irgendwann stirbt auch sie. Die Hoffnung, die der alte Simeon jetzt hat und die ihn endlich glücklich sterben lässt, ist die ganz große Hoffnung. Es ist die Hoffnung Gottes. Gottes Hoffnung für die Welt, für alle Völker, für alle Menschen. Und die beginnt ganz klein mitten in Israel. 
Diese Hoffnung stirbt nie. Sie wird jedes Jahr an Weihnachten neu geboren. Und in diesem Jahr werden wir nicht übersehen können, dass sie in Israel zur Welt kommt, „...ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.“ 
Jürgen Kaiser

November 2023

Er allein breitet den Himmel aus und geht auf den Wogen des Meeres. Er macht den Großen Wagen am Himmel und den Orion und das Siebengestirn und die Sterne des Südens. (Hiob 9,8-9)

Hilft es, in die Sterne zu gucken? Geben sie Antworten auf unsere Fragen? Viele Menschen glauben, dass die Sterne ihre Schicksale erhellen oder ihnen offenbaren, was für Menschen sie sind. 
Hiob kennt sein Schicksal und weiß, was für ein Mensch er ist. Nicht vom Blick in die Sterne, sondern, weil er sich sicher ist, ein aufrechter Mensch zu sein und wird trotzdem von einem grausamen Schicksal gebeugt. Er hat alles verloren, seine Familie, seinen Reichtum, seine Gesundheit. Er war ein gottesfürchtiger Mensch und ist sich keiner Schuld bewusst. Warum also? Das ist seine Frage. Er sitzt in seinem Elend, schaut in den Himmel, sieht die Sterne und erkennt: Gott hat das alles gemacht. Gott ist größer als alles. Ist das ein Trost? Ist das eine Antwort?
Mir ist der Blick in den Sternenhimmel immer unheimlich. Ich erkenne dort keinen Gott. Ich muss beim Blick in den sternenklaren Nachthimmel an die unheimlich große Zahl an Sternen und Galaxien und schwarzen Löchern denken. Und an Lichtjahre. Dass man Entfernung in Jahren misst und dann meist Millionen davon - allein das ist sehr verwirrend. Wer weiß, ob es die Sterne des Orion noch gibt, denn das Licht, das von ihnen in mein Auge fällt, ist ja schon vor tausenden Jahren von ihnen ausgestrahlt worden. Beim Blick in den Himmel geraten mir die Grundlagen meiner menschlichen Orientierung aus dem Lot. Da fängt alles an, zu wanken. Das ist mir alles zu weit jenseits des menschlich Vorstellbaren, zu unheimlich. Der Blick in den Himmel gibt mir keinen Halt und keinen Trost und keinen Gott. 
Hiob ringt mit Gott und seinen Freunden um die Antwort auf das Warum. Er wird keine Antwort bekommen. Aber eine Einsicht wird wachsen. Sie deutet sich hier im Monatsspruch für November schon an: Gott ist groß. Sehr groß. In jedem Fall größer als Hiob selber und all seine Fragen. 
Nach dem furchtbaren Terrorangriff der Hamas auf Israelis vom 7. Oktober, nach der bestialischen Ermordung so vieler Menschen fragen wir: Warum? Diese Frage überhaupt zu stellen, heißt für uns immer auch, sie Gott zu stellen. Wir fragen IHN das, auch wenn wir schon lange wissen, dass er uns diese Frage nicht beantworten wird. 
Beim Blick in die Sterne wurde Hiob klar, dass er ganz klein und Gott ganz groß ist. Aber damit auch ganz fern. Das beruhigte ihn kaum. Er kämpfte weiter um eine Antwort, um eine Rechtfertigung Gottes und um seine Rehabilitierung. Nach vielen weiteren Disputen mit seinen Freunden, die ihn alle nicht befriedigen, spricht endlich Gott selbst. Gott allerdings denkt nicht im Entferntesten daran, Hiobs Fragen zu beantworten. Er fragt ihn nur seinerseits, ob er, Hiob, den Himmel und die Erde, die Tiere und die Menschen und alles geschaffen habe? Er stellt klar: Gott ist der Schöpfer und Hiob ist ein Geschöpf. So wie Hiob seitenweise Gott Fragen stellte, die dieser nicht beantworten wollte, so stellt Gott nun Hiob viele Fragen, die Hiob nicht beantworten kann. Doch damit gibt Hiob sich zufrieden. 
Nein, der Blick in die Sterne hilft nicht. Die Sterne beantworten unsere Fragen nicht. Auch Gott wird sie nicht beantworten. Aber es könnte schon helfen, wenn Gott uns infrage stellt. Immerhin schwiege er dann nicht mehr. Bei allen Fragen, die wir an Gott haben, sollte klar bleiben: Am Ende wird er uns die Fragen stellen. Jürgen Kaiser

Oktober 2023

Seid Täter des Worts und nicht Hörer allein; sonst betrügt ihr euch selbst. (Jakobus 1,22).

„Red nicht nur, sondern tu auch was!“ Das habe ich schon oft gesagt und schon oft gehört. Sie auch? Am meisten hören wohl Politiker und Parlamentarier diesen Satz, der dann als Vorwurf ankommt: Ihr redet ja nur und tut nichts! Dabei sind Parlamentarier Menschen, die reden, das Reden steckt schon in ihrer Berufsbezeichnung. Denn damit man das Richtige und Beste tut, muss man es erst bereden und besprechen.
Wenn ich es richtig wahrnehme, gibt es in unserer Gesellschaft eine gewisse Verachtung des Wortes und der Rede oder vielleicht nur ein Überdruss daran. In einer solchen Stimmungslage trifft das Wort aus dem Jakobusbrief vermutlich auf viel Zustimmung.
Der Autor des Jakobusbriefes war sicher kein Wortverächter. Ein Wortverächter schreibt keine Briefe. Aber er streitet sich mit einem anderen, weit berühmteren Autor und Wortliebhaber des Neuen Testaments, mit dem Apostel Paulus. Es geht um die alte Frage, was zählt: der Glaube allein, wie Paulus behauptet, oder doch wohl das, was am Ende bei rauskommt, also das richtige Tun?
Natürlich zählt, was am Ende bei rauskommt. Das würde jeder sofort unterstreichen – auch Paulus. Trotzdem muss der Autor des Jakobusbriefes beim Lesen der Paulusbriefe den Eindruck gewonnen haben: der Kollege meint, das Tun sei völlig egal, Hauptsache der Glaube ist richtig. Das hat Paulus so nie behauptet, allerdings könnte er diesen Eindruck erweckt haben, weil er in der Tat dem Glauben eine entscheidende Rolle beimisst. Keineswegs ist Paulus das Tun egal. Die entscheidende Frage ist nur: Wie kommen wir zum Tun bzw. was hemmt uns dabei, zur Tat zu schreiten? Es geht also um die Motivation.
Wir wissen: Gut gemeinte Appelle bringen meistens nichts. Sie verpuffen und motivieren uns eher zum Widerstand als dazu, ihnen Folge zu leisten. Verbaler Druck, Drohungen, schlechtes Gewissen machen – all das hemmt eher, als dass es uns in Gang setzt. Paulus hat offenbar eine psychologisch begründete Erfahrung gemacht: Je freier wir von Erfolgsdruck und Leistungszwang sind, desto leichter fällt es uns, etwas zu tun. Je weniger Angst wir davor haben, etwas falsch zu machen, desto lieber packen wir es an.
Darum hat Paulus im Römerbrief diesen berühmten Spitzensatz geschrieben: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Röm 3,28) Gott sieht auf unser Vertrauen zu ihm und nicht auf unser immer unvollkommenes Tun. Vor Gott gibt es keinen Leistungszwang und keinen Erfolgsdruck. Wie wir auf Gott vertrauen, so vertraut Gott darauf, dass wir dann schon das Richtige tun werden.
Wenn im Jakobusbrief also steht: „Seid (auch) Täter des Wortes und nicht Hörer allein!“, würde Paulus vielleicht eingewendet haben: Der Satz an sich ist ja richtig, nur er nützt nichts. Denn vom verbalen Appell allein wird keiner ein Täter des Wortes.  Dazu braucht es eben mehr.
Weil mir die Einwände des Paulus sehr einleuchten, würde ich den Satz im Jakobusbrief gern so abwandeln: Seid Hörer des Wortes, dann werdet ihr auch seine Täter sein.“ So gefällt mir das Wort für Oktober besser. Jürgen Kaiser

September 2023

Jesus Christus spricht: Wer sagt ihr denn, dass ich sei? (Matthäus 16,15).

Auf diese Frage weiß ich auch keine Antwort, jedenfalls nicht die eine Antwort. Antworten fallen mir schon ein, viele sogar, aus der Bibel und der christlichen Tradition: Er ist der Messias, der Christus, der Menschensohn, der Sohn Gottes, Mariens Sohn, Rabbi, Lehrer, Meister, der Herr, der Heiland, der Retter, der Erlöser, der Mittler, der Gekreuzigte, der Auferstandene, mein einziger Trost im Leben und im Sterben. Ich könnte auch eigene Antworten versuchen. Dann hätte ich aber auch nicht die eine Antwort, sondern immer noch mehrere. Ich würde sagen, Jesus ist der gute Mensch von Nazareth, der Menschenentdecker, der Gleichniserzähler, der Gottesreichverkünder.
Jesus fragt seine Freunde und Schüler, die Jünger: Sagt mal, was sagen die Leute, wer ich sei. „Sie sprachen: Einige sagen, du seist Johannes der Täufer, andere, du seist Elia, wieder andere, du seist Jeremia oder einer der Propheten.“ (Mt 16,14) Auch die Menschen, die Jesus damals erlebten, haben nicht die eine Antwort. Sie greifen auf Vorgaben ihrer Glaubenstradition zurück. Daraufhin fragt Jesus seine Freunde. Und ihr, was sagt ihr denn, wer ich sei? Ist Jesus nicht zufrieden mit den Identifikationen, die sich aus der Tradition anbieten? Will er etwas „authentischeres“? Petrus tritt hervor und sagt: „Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“ (Mt 16,16)
Man kann beim Lesen der Evangelien den Eindruck gewinnen, es gehe in ihnen vor allem um diese eine Frage: Wer ist dieser Jesus? Am deutlichsten ist das im Markusevangelium. Dort läuft der Spannungsbogen auf das Petrusbekenntnis zu.
Kommt es darauf an, dass wir die richtige Antwort geben? Öffnet sich einem die Himmelstür nur, wenn man die richtige Antwort weiß? Nein, glauben und sagen, was man glaubt, ist keine Quizshow. Es gibt keine Belohnung für die richtige Antwort. Und auch keine Bestrafung für die falsche. Obwohl man das auf den ersten Blick denken könnte, denn Petrus bekam heftige Schimpfe von Jesus, als habe er etwas Falsches gesagt. Als Jesus gleich nach dem Bekenntnis des Petrus von seinem künftigen Leiden und Sterben sprach, wollte Petrus das nicht wahrhaben und versuchte, Jesus die düsteren Gedanken auszureden. Das hat Jesus ziemlich verärgert und er schickte Petrus weg. Petrus hatte nichts Falsches gesagt, er wusste nur nicht, was er damit sagte, was es bedeutet und einschließt.
Unsere Bekenntnisse zu Jesus Christus sind keine Zauberformeln, Türöffner, Ratespiele, Wissenprüfungen oder Schwurformeln der Dazugehörigkeit. Sie sind Ausdruck unserer je eigenen Erfahrung mit dem Glauben an ihn. In den unterschiedlichen Lebenssituationen kann uns Christus sehr viel Verschiedenes sein. Bei wem gerade das Leben rund läuft und Leiden und Sterben noch außerhalb des Lebenshorizontes liegen, wird wie Petrus nicht ans Kreuz denken, wenn er Christus sagt. Er wird bei Jesus vielleicht eher an den Freund, den Lehrer, den Menschensohn und Menschenentdecker denken. Wer leidet oder den Tod vor Augen hat, wird leichter sagen können: Du bist Christus, mein Erlöser, der Gekreuzigte und Auferstandene. Es gibt nicht das eine richtige Bekenntnis. Jede Zeit, jede Situation, jede Phase braucht ihr eigenes Bekenntnis.
Jürgen Kaiser

Juli 2023

Jesus Christus spricht: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet." (Matthäus 5,44-45)

Da hat Jesus aber mal was gesagt! Dieser Satz nimmt wahrscheinlich Platz eins unter den Top 10-Sätzen von Jesus ein. Der Satz von der Feindesliebe – für viele Inbegriff des Christlichen.
Aber seit Russland die Ukraine überfallen hat, lässt er sich nicht mehr so leichtfertig dahersagen wie vorher. Vor Ukrainern würde ich mich hüten, ihn zu zitieren. Man kann selbst mit Jesusworten im Mund noch überheblich wirken.
Der Satz ist allerdings nicht erst seit dem 24. Februar 2022 eine Provokation, er war es schon immer und sollte es wohl von Anfang an sein. Der andere Top 10-Satz von der rechten und der linken Backe verdeutlicht es noch drastischer. Nein, man kann den Ukrainern nicht sagen, sie sollen auch noch die linke Backe hinhalten, wenn sie auf die rechte geschlagen werden; man kann ihnen nicht sagen, sie sollen den Russen ihr ganzes Land ausliefern, wenn die sich mit Lügen und Gewalt einen Teil davon nehmen wollen.
Nicht alle Sätze von Jesus lassen sich zu jeder Zeit gut weitersagen. Vielleicht muss man sie sich auch nicht immer zueigen machen. Vielleicht reicht es zu sagen: Es ist ein Satz von Jesus, aber es ist nicht mein Satz, nicht heute, nicht für die Ukraine.
Der in moralischen Dingen am häufigsten gesagte Satz: „Das muss jeder für sich entscheiden“ gilt hier besonders. Meistens ist dieser Satz nur Ausdruck einer gewissen Feigheit oder Faulheit, seine moralische Überzeugung zu verteidigen und für sie einzustehen. Nicht aber im Fall der Feindesliebe und des Verzichtes, sich zu verteidigen. Denn dazu kann sich tatsächlich nur der Angefeindete und der Angegriffene selbst entscheiden. Zunächst gilt und muss das Selbstverständliche gelten: Wer angegriffen wird, hat das Recht, sich zu verteidigen. Und die Mitmenschen haben die Pflicht, einem, der angegriffen wird,  beizuspringen und ihm zu helfen, sich zu verteidigen. Nur der Angegriffene selbst kann sagen: Ich verteidige mich nicht, damit es nicht noch schlimmer wird.
Das sollte allerdings jeder, der angegriffen wird, erwägen. Deshalb ist es gut, dass Jesus seine Sätze von der Feindesliebe und vom Backe-Hinhalten gesagt hat. Manchmal kann es tatsächlich weiser sein, auf Gegenwehr zu verzichten und zu versuchen, seinen Feind zu lieben, um Gewaltspiralen zu unterbrechen und das große Blutvergießen zu vermeiden.
Ich bin sicher, es vergeht keine Sekunde, in der nicht alle Ukrainer – der Präsident, die Regierung, die Militärführung und alle Einwohner – genau das überlegen. Denn auch in der Ukraine kennen sie die TOP 10-Sätze von Jesus. Aber so lange sie sagen: „Es geht gerade nicht, die Russen zu lieben“, so lange sollten wir ihnen kein schlechtes Gewissen machen – schon gar nicht mit Jesus. Vielleicht gelingt es ihnen ja wenigstens, für die Russen zu beten – für deren arme Soldaten, die von Putin „verheizt“ werden, und für Putin selbst, dass er endlich zur Vernunft kommt und sein Gewissen sich regt.
Jürgen Kaiser

Juni 2023

Gott gebe dir vom Tau des Himmels und vom Fett der Erde und Korn und Wein die Fülle. (1. Mose 27,28)

Bei einigen Sätzen aus der Bibel wundere ich mich, dass sie, anders als hunderte andere Verse, nicht zu einem Lied geworden sind – obwohl auch ihre Sprache berührend ist und ihre Bilder schön. Warum etwa gibt es keinen Geburtstagskanon zum Monatsspruch für Juni?
Gott gebe dir vom Tau des Himmels und vom Fett der Erde und Korn und Wein die Fülle. (1.Mose 27,28)
Ein guter Wunsch für Geburtstagskinder, für Jubilare, wenn wir etwas zu feiern haben oder uns verabschieden. Aber diesen schönen Segen spricht ein übers Ohr gehauener Vater seinem listigen, von dessen Mutter zum Betrug angestifteten Sohn zu. Eine turbulente und am Ende herzzerreißende Geschichte über Eltern und Söhne in 1.Mose 27, die Sie einmal lesen sollten! (Haben Sie gerade noch fünf Minuten?) Dem Betrüger nun also alles Gute! Zugesagt vom Betrogenen! Will man das zum Geburtstag hören oder als Monatsspruch?
Bibelworte mit solchem Segen sind die ausgebreiteten Hände Gottes. So will er geben: großzügig, verschwenderisch. Das ist für uns sparsame Reformierte vielleicht der noch größere Anstoß dieser Geschichte und dieses Verses. Aber wie gut, dass uns das so erzählt wird! Und dazu passt dann irgendwie auch die Geschichte von List und Tücke. Gott ist frei darin und hat seine Freude daran, uns mit Gutem zu überschütten. Und das hat mit unseren Ansprüchen, unseren Ordnungen, unseren Erwartungen wenig bis gar nichts zu tun. Das erzählt diese Geschichte eben auch. Ja, Gottes Segen verwirklicht sich wie seine Liebe und Treue bisweilen durch unser menschliches Durcheinander. Und wie bei Jakob findet der göttliche Segen sogar mit menschlicher Schlitzohrigkeit den Gesegneten. Das ist so amüsant wie anspruchsvoll zu glauben. Der reformierte Theologe Karl Barth zitierte in bester Gelehrtenmanier und augenzwinkernd gerne den lateinischen Satz (von einem alten Schweizer Wappen): Hominum confusione et Dei providentia Helvetia regitur. Durch menschliche Verwirrungen und die Fürsorge Gottes wird die Schweiz durch die Zeiten geführt. Und was für die Schweiz gilt, ist auch anderwärts nicht anders. Dieser verwegene Gedanke kann uns gelassener in die Geschichte sehen lassen, auch in Geschichten der Bibel wie 1. Mose 27.
Tau des Himmels, Fett der Erde und Korn und Wein und von allem genug – dir und allen, die unter Gottes Segen leben! Verlass dich darauf! Und denk daran beim nächsten Biss in ein Brot und beim Glas Wein heute Abend!
Und wer weiß – vielleicht findet sich ja noch ein tüchtiger Kirchenmusikdirektor, der aus unserem Monatsspruch einen Kanon komponiert … Karl Friedrich Ulrichs

Mai 2023

Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag. (Sprüche 3,27)

Klar, mach ich! Ich weigere mich nicht. Ich helfe doch gern. Ehrensache! Man ist ja kein Unmensch.
Aber wenn es konkret wird, habe ich dann doch ein paar Fragen: Wer ist eigentlich bedürftig? Wer braucht denn wirklich Hilfe von mir? Wir leben in einem funktionierenden Sozialstaat. Wer ist Not ist, bekommt Hilfe. Für fast alle echten Bedürfnisse wird gesorgt, kaum einer, der durch das Raster sozialer Transferleistungen fällt. Klar, die fallen nicht vom Himmel, man muss sich kümmern, muss auf Ämter gehen, Formulare ausfüllen, Nachweise erbringen. Die Bedürftigkeit muss geprüft werden. So viel Verständnis muss jeder Bedürftige schon aufbringen. Wer in Not geraten ist, sollte sich zunächst mal selber umsehen, wo man Hilfe erhalten kann. Reine Bequemlichkeit will ich nicht fördern. Denn am Ende ist es doch so: Wer bei uns wirklich bedürftig ist, bekommt Hilfe.
Ich will nicht falsch verstanden werden: Es ist ja nicht so, das ich nicht gerne helfe. Wer tut nicht gern Gutes? Aber ich kann schlechterdings nicht allen helfen. Es gibt zu viele, die vor mir die Hand aufhalten. Wenn ich allen etwas gebe, habe ich selbst bald nichts mehr und muss selbst mit dem Pappbecher durch die Wagen gehen. Auch mir steigen gerade alle Kosten über den Kopf. Ich muss selber sehen, wo ich bleibe.
Und dann ist es auch gar nicht so einfach, richtig zu helfen. Wenn jemand Geld von mir will - woher weiß ich, dass er es nicht gleich für Alkohol oder Drogen ausgibt? Ist denn einem geholfen, wenn man seine Sucht fördert? Man müsste einem helfen, sich selber zu helfen. Aber dazu braucht es Fachleute, da bin ich nicht der Richtige.
All diese Fragen sind irgendwie berechtigt. Aber sie können auch Ausreden sein. Pseudorationalisierungen der Weigerung, dem Bedürftigen Gutes zu tun. Das Schlimmste, was man einem Bedürftigen antun kann, ist, ihm seine Würde zu nehmen. Ihn also zu bevormunden, besser zu wissen als er selbst, was er braucht, was ihm gut tut und was ihm hilft. Deshalb: Überlege nicht zu lange, wenn du gefragt wirst. Hilf spontan und tu es gleich! Hilf, wenn du kannst! Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag! Jürgen Kaiser

April 2023

Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende. (Römer 14,9)

Die pastorale Kunstpause hätte der prominente Prediger an jenem Ostersonntag besser nicht gesetzt. Mit einem Zitat vom Apostel Paulus begrüßte er die Gemeinde zum Osterfestgottesdienst, sehr feierlich hob er an: „Jesus Christus ist gestorben und lebendig geworden …“ und wurde jäh von meiner vierjährigen Tochter, die auf meinem Schoß saß, unterbrochen: „Waaas? Jesus is destorben?!“, rief sie mit ihrem hübschen Sprechfehler ins geschichtsträchtige Kirchenschiff hinein. In den Geschichten ihrer Kinderbibel war ihr Jesus bisher als sehr lebendig begegnet. Ich konnte sie nur allzu gut verstehen, so lese ich das Neue Testament nämlich auch.
Nach der verunglückten Kunstpause setzte der Pfarrer das Zitat fort: „… um Herr zu sein über Tote und Lebende.“ Das ist dann insgesamt ein sehr ernster Satz, selbst wenn wir Jesu „Herr sein“ heute auch als seine Nähe und seine Macht als seine Liebe interpretieren (und damit sehr nahe am biblischen Denken und Glauben bleiben). Den vollständigen Satz zitiere ich – ohne Kunstpause! – bei jeder Trauerfeier und da fällt dann beim drittletzten Wort mein Blick ins Grab und beim letzten schaue ich in die Runde der Angehörigen: „… um Herr zu sein über Tote und Lebende.“ So ist es bei jeder Trauerfeier, wenn wir am offenen Grab mit dem Sarg oder der Urne darin stehen. Ein schwerer Augenblick und ein ganz kostbarer. Wir geben jetzt endgültig einen Menschen weg, mit dem wir gelebt, den wir geliebt und geachtet haben. Das ist je nach den Umständen des Lebens und des Sterbens unterschiedlich schwer. Aber immer gleich ist dieses Wort von Paulus, dass Jesus Christus Herr ist über Tote und Lebende. Wenn ich dieses Wort höre oder selbst spreche, erlebe ich das als Trost: Unser Herr Jesus Christus verbindet uns Lebende mit unseren Toten. Ihm gehören wir „im Leben und im Sterben“, wie der Heidelberger Katechismus Jesu Herr-Sein und unser Vertrauen auf den Begriff bringt. Das gilt für unsere Verstorbenen auch. Auch sie gehören Jesus Christus, der das Leben von uns Menschen gelebt und unseren Tod gestorben ist. Und als Auferstandener beides in seinem Leben durch den Tod hindurch verbindet. Darum ist mein Blick zum Grab und zu den Trauernden auch gar nicht so hilfreich, weil er nahelegen könnte, dass Jesus für die Toten gestorben und für uns Lebende auferstanden sei. Er ist aber gerade auch für unsere Toten (und für uns als künftige Tote) auferstanden und für uns Lebende gestorben, wie es auch die vor uns Lebenden geglaubt haben, deren tiefempfundene Passionslieder wir in diesen Wochen im Gottesdienst singen.
Wir hören diesen Satz – ohne Kunstpause! – als Monatsspruch zum April. Ein ganzer Monat, in dem wir uns das zu Herzen nehmen können: Jesus Christus liebt das Leben so sehr, dass er es selbst ist – so wie Gott, der das Leben erschafft. Und dass er mit uns seine Lust hat an den Blüten des Frühlings, diesen Zeuginnen des Lebens (auch an und in Gräbern).
„Waaas, Jesus is destorben?!“ Ich war damals heilfroh, dass die Gemeindeglieder um uns herum österlich schmunzelten. Und dieser kindliche Spruch über den seit Ostern fragwürdigen Tod ist mir bis heute ein Zuspruch des Lebens.
Karl Friedrich Ulrichs

Monatsspruch März 2023

Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? (Römer 8,35)

Vieles! Vieles kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus wahr geworden ist. Vieles kann dazwischenkommen. Vieles kann dazu führen, dass uns die Liebe Christi nicht erreicht, Vieles kann verhindern, dass sie uns zu Herzen geht. Es kann sein, dass man einfach viel zu viel zu tun und gar keine Zeit für solche Dinge wie Liebe hat. Oder einfach keinen Sinn dafür. Es kann sein, dass einem der Glaube fehlt, dass man also gar nicht auf den Gedanken kommt, dass einen einer, der zweitausend Jahre tot ist, noch lieben könnte.
Der Apostel Paulus, der diesen Satz – natürlich eine sogenannte rhetorische Frage – im Römerbrief geschrieben hat, weiß ganz genau, dass es Vieles gibt, das uns von der Liebe Christi trennen kann. Er zählt es auf: „Traurigkeit oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert“ (Röm 8,35).
Einige dieser Hinderungsgründe haben sich für uns heute erledigt. Christenverfolgungen gibt es bei uns nicht mehr, Hunger auch nicht und die Lebensgefahren sind stark reduziert; im allgemeinen leben wir recht sicher – außer man fährt in Berlin mit dem Fahrrad. Von den Hinderungsgründen, die Paulus nennt, bleiben bei uns eigentlich nur zwei: die Traurigkeit und die Angst. Manche Traurigkeit verkrustet die Seele so dick, dass sich die Liebe an ihr wund reibt. Und manche Lebensangst sitzt so tief, dass die Liebe keine Chance hat, durchzudringen.
In der Mitte des Römerbriefs schreibt Paulus ein paar Sätze, die so euphorisch sind, dass man denken könnte, er habe ein paar Schlucke zu viel aus dem Abendmahlskelch getrunken – Wein, nicht Saft! Im Überschwang des Glaubens und einer Entfesselung der Gefühle schreibt er rhetorische Fragen: Was will uns scheiden von der Liebe Christi? Nichts! Denn die Liebe Gottes überwindet alle Widerstände. „Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ (Röm 8,37-39)
Solch eine Glaubensgewissheit ist bei niemandem eine beständige Sache. Jeder hat Zweifel, jede kennt die Frage: Werde ich noch geliebt? Aber es gibt kostbare Momente im Leben, in denen wir berührt werden, in denen etwas tief in die Seele dringt und sogar die Mauer aus Angst und Traurigkeit überspringt. Das sind die Momente, in denen dich die Liebe Christi erreicht. Gott sorgt für solche Momente. Auch ohne einen Schluck Wein zu viel. Nimm sie wahr und behalte sie im Herzen! Wenn du ein paar Mal in deinem Leben jubeln konntest wie Paulus und dir sicher warst: Nichts kann mich von der Liebe Gottes trennen, nichts Großes und nichts Kleines, nichts, was war und nichts, was kommt, weder Leben noch Tod, dann ist das schon genug zum Leben und zum Sterben. Jürgen Kaiser

Monatsspruch Februar 2023

Sara aber sagte: Gott ließ mich lachen. (1. Mose 21,6)

Ich mag alte Gesichter. Die Jahre zeichnen sich darin ab. Das lange Leben ist in ihnen zu sehen. Und oft Klugheit und Würde. Viele geweinte Tränen zeichnen sich geheimnisvoll ab und häufiges Lachen auch. Besonders schön sind alte Gesichter, in die sich Kummer eingezeichnet hat, wenn sie lachen. Ein solches Gesicht trug Sara. Ich möchte ihr begegnen und ins Gesicht sehen. Und ihr Lachen hören. Auch weil sie uns etwas zu sagen hat.
Sie ist schon lange im – sagen wir: – reproduktiven Ruhestand, als sie ein Kind bekommt. Die alte Dame ist sich der bizarren Situation bewusst, in der Gott sie gebracht hat, hat aber genug Humor, um darüber zu lachen. In diesem Lachen verbirgt sich auch ihre große Freude darüber, einen Sohn zu haben, ihrem Mann einen Erben verschafft zu haben (wie sie im Einklang mit der patriarchalen Gesellschaft denkt und sagt). Und dass andere über sie und ihren steinalten Mann lachen, bringt sie auch ins eigene Lachen. Was wir mit unserem Lachen alles gut machen können!
Sara erzählt von ihrem Lachen, um den Namen ihres Kindes zu erklären. „Isaak“ ist erklärungsbedürftig – wie der Name seines älteren Halbbruders „Ismael“, der „Gott hat (er)hört“ heißt. „Isaak“ heißt: Gott „hat mich lachen gemacht“. Und das ist nun alles andere als ein lächerlicher Name, sondern ein lachender Name – lachend wie das Gesicht der Mutter. Das Lachen, das Gott in ihr Leben gebracht hat, wird über ihr in die Jahre gekommenes Leben hinaus weitergehen.
Das ist schön, aber nicht leicht zu verstehen. Und darum frage ich einmal bei „künstlicher Intelligenz“ nach, von der manche meinen, dass sie unserem menschlichen Geist überlegen sei. Seit einigen Wochen ist ein Chatbot, ein computergesteuerter Gesprächspartner, online. Und dieses ChatGPT genannte Programm bitte ich um eine Predigt zum Monatsspruch. Ich habe selten etwas so Geistloses gelesen: „Dieser Satz zeigt uns, dass Gott in unserem Leben präsent ist und uns Freude schenkt, selbst in schwierigen Zeiten. Es erinnert uns daran, dass wir uns immer auf Gott verlassen können, um uns Trost und Hoffnung zu geben. Lachen ist eine wichtige Sache im Leben, es hilft uns dabei, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen und uns von unseren Problemen abzulenken. Es kann uns auch helfen, unsere Emotionen zu regulieren und uns zu beruhigen. Aber lachen ist nicht immer einfach, besonders wenn wir durch schwere Zeiten gehen. In diesen Momenten kann es schwierig sein, einen Grund zum Lachen zu finden. Aber wie Sara sagt, lässt uns Gott lachen. Er gibt uns die Freude, die wir brauchen, um durch schwere Zeiten zu kommen. Gott ist immer bei uns, auch in den schwierigsten Situationen. Er gibt uns die Kraft, um durchzuhalten und die Freude, die uns hilft, die Dinge positiv zu sehen.“
Beim Lesen solchen Predigt-Blablas überkommt mich das Gähnen (und ein leises Erschrecken, weil der Chatbot spricht, wie er es in abertausenden Predigten, auf die er zugreift, liest; der Chatbot hält uns also einen Spiegel vor, in dem wir unsere durchschnittliche Predigtweise sehen). Nicht nur Gähnen ist bekanntlich ansteckend, auch und viel mehr Lachen. Saras lachendes Gesicht macht mich lachen. Du liest in der Bibel – und lachst! Und du entdeckst an Sara, dass Gott das mit dir macht. Dazu brauchst du keine „künstliche Intelligenz“, sondern die Intelligenz des Glaubens und Gottes heiteren Geist. Und den wünsche ich Ihnen im Februar – nicht nur an den Karnevalstagen.
Übrigens: Als ich den Chatbot bitte: „Sei humorvoller“, schreibt er doch allen Ernstes: „Sicherlich kennen wir alle die Tage, an denen alles schiefläuft. Der Kaffee ist kalt, der Regen prasselt an die Fenster und unsere Haare sehen aus wie ein Vogelnest. Aber Sara erinnert uns daran, dass Gott immer einen Weg findet, uns ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.“ Das finde ich so dämlich, dass ich schon wieder lachen muss. Karl Friedrich Ulrichs

Januar 2023

Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut. (1. Mose 1,31)

„Es werde!“, sprach Gott, und es wurde. Das Licht, das Himmelsgewölbe, das Festland, Sonne, Mond und Sterne, die Pflanzen, die Tiere und die Menschen. Nachdem jedes Einzelne, das Gott ins Leben rief, an seinem Schöpfungstag, also zu seiner Zeit, geworden war, sah er es an und begutachtete es: Er sah, dass es gut war. Als Gott mit allem fertig war, betrachtete er am Abend des sechsten Tages alles und stellte fest, dass es sehr gut war. Den Einzelteilen für sich betrachtet gab Gott also die Note Zwei, das Ganze aber, das Gesamtwerk, bekam eine Eins.
Gott selbst gibt den einzelnen Werken seiner Schöpfung nicht die Bestnote. Im Hinblick auf den Menschen und manchen Zeitgenossen kann ich das nachvollziehen. Wir halten allerdings oft die außermenschliche Schöpfung oder Natur für vollkommmen und denken, sie werde allein durch das Eingreifen des unvollkommenen Menschen gestört und beschädigt. Aber sind die anderen Schöpfungswerke tatsächlich so vollkommen? Die Sonne wird irgendwann ausgebrannt sein und dann explodieren und alles um sie herum hinwegfegen, also auch uns. Hätte man das nicht besser machen können? Und die doofe Katze in unserem Garten, die mit dem Eichhörnchen so lange spielt, bis das Eichhörnchen tot ist? Dafür bekäm die Katze von mir auch keine Eins. Nicht mal eine zwei, denn das ist mangelhaft.
Nun sehe ich schon, wie wütende Katzenfreundinnen und Sonnenanbeter ihre Argumente sammeln und mir erklären wollen, dass in der Gesamtbetrachtung alles seine Ordnung habe in und mit der Natur, dass es seinen guten Sinn habe, dass die Katze ihren Trieben folge und die Sonne einmal explodiere, denn auch die Erde verdanke ihr Sein einer explodierenden Sonne und wir selbst seien schließlich nichts als Sternenstaub. Dem könnte ich gar nicht widersprechen, denn auch Gott sah es ja so: In der Gesamtbetrachtung am Ende des sechsten Tages fand er alles sehr gut.
Einen Perfektionismus gönnte sich also selbst Gott nicht, jedenfalls nicht in den Einzelheiten. Perfekt war nur das Ganze – und auch da kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als sei auch Gott am Abend des sechsten Tages vom sehr guten Gesamteindruck etwas überrascht gewesen.
Wenn schon Gott mit einem „gut“ zufrieden ist, sollten wir das auch sein. Mit Perfektionismus überfordern wir uns selbst und die anderen. Perfektionismus schadet mehr, als dass er nützt. Der Anspruch, etwas „nur“ gut zu machen, ist ja auch schon ein hoher Anspruch, aber eben noch kein unmenschlicher. Wenn aber alle ihre Sache gut machen, kann gut und gerne am Ende ein sehr gutes Gesamtwerk dabei herauskommen. Das sehr Gute, das Perfekte, gibt es nur im Zusammenspiel der vielen Guten. Im Orchester spielen gute Musiker, sehr gute Musiker werden Solisten. Trotzdem höre ich lieber eine Symphonie als eine Sonate. Jürgen Kaiser

Dezember 2022

Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Junge leitet sie. (Jesaja 11,6)

Als im Kindergottesdienst die Geschichte von der Sintflut erzählt wurde und vom tierischen Gedrängel auf Noahs Arche, fragte sich der kleine Karl zwar nicht, ob es pfiffig war, Biber, Termiten und andere allzu holzverliebte Tiere mit an Bord zu nehmen, wohl aber, wie es angehen konnte, dass da auch lauter einander in innigster Fressfeindschaft zugetane Tiere offenbar friedlich nebeneinander lebten. Er hat es wohl dem mäßigenden Einfluss des gerechten Noah zugeschrieben, dass die Raubtiere den Schafen und Ziegen und Rindern und besonders den niedlichen Lämmern und Kälbern nichts zu leide taten. Er musste es sich selbst zurechtlegen, weil hier am Anfang der Bibel dazu nichts gesagt wird. Es wäre denn ja auch zu verrückt, zu sehr gegen alle Erfahrung, ja gegen alle Natur, wenn ein Löwe angesichts eines appetitlichen Kalbs gesittet bliebe.
In der Mitte der Bibel, beim Propheten Jesaja, wird dann aber doch dieser verrückte Traum geträumt: Tiere, bei denen sonst das eine das andere tötet, ruhen beieinander, fressen miteinander und zwar vegetarisch. Und ganz verrückt ist, dass das kleine und mehr oder weniger friedfertige Lamm den bösen Wolf beschützt. Nicht nur Schäfer in Brandenburg denken: Das stellt doch alles auf den Kopf! Das soll es aber auch. Ein wunderbarer Monatsspruch für den Dezember.
Wenn du dir eine gute Zukunft erträumst, mit der Liebe und dem Glanz von Weihnachten und den länger werdenden Tagen, kannst du gar nicht groß genug denken und so neu, dass es verrückt klingt. Und die Bilder dafür nimmst du dir aus der Natur; darüber ist das Staunen nämlich am größten, gelten da doch Naturgesetze und natürliche Ordnungen. Alle bisherigen Erfahrungen werden in deinem Traum überboten, alle Ordnungen über den Haufen geworfen. Was bisher nicht zusammengehörte, nicht zusammenpasste – nun ist es beieinander. Was bisher undenkbar schien, kommt dir in den Sinn. Ach, so müsste unsere Welt werden – wenn … Gott noch einmal ein komplettes Reset in seiner Schöpfung machte wie mit der Sintflut? Oder wenn ein kleiner Junge aufträte, wie Jesaja sagt?
Gott hat sich für das Letztere entschieden und überbietet damit auch noch unsere Hoffnungsverrücktheiten. Gott will unsere Sehnsucht nach seiner Nähe und Gegenwart stillen und kommt in unsere Welt, in unser Leben, wird Mensch. Wenn Gott Mensch werden kann, kann auch ein Panther beim Böcklein liegen. Und dabei wird Gott nicht etwa ein mächtiger Mensch, nicht einmal ein großer Mensch, sondern ein kleiner. Aber gerade so, mit diesem kleinen Jungen, wird alles anders – für Wolf und Lamm, Panther und Böcklein, Kalb und Löwe und für uns. Mit dem Monatsspruch träume ich bis Weihnachten und weiter. Karl Friedrich Ulrichs

November 2022

Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen! (Jesaja 5,20)

Wie sehr man die Wahrheit verdrehen kann, sehen wir seit dem 24. Februar. Putin überfällt ein Nachbarland und nennt es eine militärische Spezialoperation. Er lässt Bomben auf Krankenhäuser werfen und Raketen in Wohnhäuser und spricht von einer Befreiung. Er behauptet, die Ukraine werde von Nazis regiert, obwohl ihr Präsident Jude ist. Er gibt vor, die Menschen wollten zu Russland gehören, obwohl sie ihre Abscheu vor Russland kaum deutlicher zeigen können. Er lässt abstimmen und hält den Wählern die Waffe vor die Nase. Er spricht von einer Umgruppierung seiner Bataillone, obwohl es eine panische Flucht vor dem Gegner war. Er behauptet, der Westen wolle Russland zerstören, obwohl er es ist, der alle Länder um Russland herum zerstören und seinem Land einverleiben will.
Putin ist ein Lügner und zwingt alle anderen auch zur Lüge. Wer die Wahrheit sagt, kommt ins Gefängnis. Die Menschen in Russland erfahren über diesen Krieg ganz anderes als wir. Sie werden belogen.
Oder werden wir belogen? Werden unsere Medien manipuliert? Haben sich die Meinungsmacher auf Putin eingeschossen, damit er als der Böse erscheint und die Nato einen Krieg gegen Russland anzetteln kann? Ist das, was wir hören und lesen, die Wahrheit oder nicht doch auch Propaganda?
Es gibt Menschen, die sich das fragen. Sie beschimpfen unsere Medien als „Lügenpresse“. Wenn die Wahrheit nicht mehr offensichtlich ist, weil die einen das Gegenteil von den anderen behaupten, fangen manche an, gar keinem mehr zu glauben. Sie misstrauen allen Medien. Weil aber ein Mensch nicht ohne Wahrheit leben kann, reimen sie sich ihre eigene Wahrheit zusammen. Dabei kommen meist wüste Verschwörungstheorien heraus.
Im Krieg kommt die Wahrheit unter die Räder. Im Krieg kommt aber auch das Böse wie sonst nie zum Vorschein. Es werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, unschuldige Zivilisten werden ermordet. Es gibt Täter und es gibt Opfer, das darf nicht relativiert werden. Gerade im Krieg muss man an der Wahrheit festhalten, auch wenn sie zunächst schwer zu ermitteln ist, weil die gegenteiligen Behauptungen kaum zu überprüfen sind. Aber es gibt die Wahrheit und es wird einmal herauskommen, wer die Täter böser Taten und wer die unschuldigen Opfer sind.
So lange das aber noch nicht so ist, muss man vertrauen. Ich glaube unseren Medien. Zwar bringen auch sie Meldungen, die sich nicht überprüfen lassen. Aber sie sind so ehrlich, dass sie das immer dazuschreiben. In meiner Tagesschau-App steht unter Kriegsmeldungen immer: „Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.“
Aber die Wahrheit wird einmal ans Licht kommen. Und dann gilt: „Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen.“ Jürgen Kaiser

Oktober 2022

Groß und wunderbar sind deine Taten, Herr und Gott, du Herrscher über die ganze Schöpfung. Gerecht und zuverlässig sind deine Wege, du König der Völker. (Offenbarung 15,3)

Mit diesem Monatsspruch für Oktober aus der Offenbarung des Johannes ist irgendwie alles gesagt. Man kann dem nur stumm zustimmen und diesen Spruch eben einen Spruch sein lassen und denken: Was geht es mich an? Lesen wir aber den biblischen Zusammenhang mit, wird aus dem bloßen Spruch eine spannende Geschichte. Die Menschen, für die Johannes spricht, erleben sich als von Plagen gequält – und der Seher Johannes nimmt diese Erfahrungen auf, um davon zu erzählen, wie Gott sich zeigen wird. (So riskant wie Johannes habe ich noch nie über Gott gesprochen!) Wie bringen wir die Plagen unserer Zeit, Krieg und Krankheit und co., mit Gott zusammen? Vertrauen wir wie Johannes und seine Leute, dass Gott uns durch diese hindurch führt?
Mit diesen bedrängenden Fragen lese ich nochmals den Zusammenhang und sehe: Der steile Spruch ist gar keine zu vorlaute Behauptung des Glaubens, die dann durch das Leben erst noch eingeholt und bewahrheitet werden müsste. Dieser Spruch ist Musik, nämlich „das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes“. Von Herzen singend können wir mehr sagen als in dröger Argumentation, weil wir von Liebe und Sehnsucht und also von Herzenswahrheiten singen, die nicht erst noch eines Beweises bedürftig sind. Als bloßer Spruch also alles- und nichtssagend – aber als Lied der geplagten Gläubigen wird der Monatsspruch mein Satz und Song des Monats Oktober. Ich übernehme ihn von denen, die ihn gesungen und geglaubt haben – so wie sie ihrerseits diese Zeilen auch schon übernommen haben von Mose und denen, deren Plagen das Alte Testament erzählt, und von denen, die ihre Plagen mit dem Alten Testament in der Hand überleben. Meine Wege durch den Oktober gehe ich mit dem Lied auf den Lippen und dem Vertrauen im Herzen, dass ich auf „gerechten und zuverlässigen“ Wegen bin, die ein König geht und zeigt. Diesem „König der Völker“ folgt selbst der neue König der Völker des Vereinigten Königreichs und des Commonwealth. Ich will´s meinem frommen Namensvetter nachtun. Nicht nur im Oktober.
Karl Friedrich Ulrichs

September 2022

Gott lieben, das ist die allerschönste Weisheit.(Sir 1,10)

Das ist ein schönes Wort. Ob es aber weise war, einen Spruch auszuwählen, den man kaum findet? Man muss ja damit rechnen, dass sich Menschen durch so einen Monatsspruch inspiriert fühlen, die Bibel in die Hand zu nehmen und mehr davon zu lesen. Ihre Suche nach „Sir 1,10“ wird aber enttäuscht werden, denn das werden sie in den meisten  Bibeln nicht finden. Die Abkürzung „Sir“ ist hier keine englische Anrede des Respekts, sondern steht für „Jesus Sirach“, eines der apokryphen biblischen Bücher, also ein Buch, das man nicht findet, weil es verborgen ist – das heißt nämlich apokryph. Es handelt sich um Schriften, die nicht in der hebräischen Bibel enthalten sind, wohl aber in deren griechischer Übersetzung, der „Septuaginta“. Die Bibelübersetzungen der Reformation (Luther und Züricher) haben sich am hebräischen Alten Testament orientiert, während sich die katholische Kirche an die „Septuaginta“ gehalten hat. Ich musste also in einer „katholischen Bibel“ nachsehen, etwa in der sog. Einheitsübersetzung, um den Monatsspruch für September zu finden und den Zusammenhang lesen zu können.
Da Sie möglicherweise keine katholische Bibelausgabe zur Hand haben und also nicht selbst nachsehen können, drucke ich für Sie den Anfang dieses Weisheitsbuches aus der religiösen Tradition Israels ab, aus einer Fassung der Lutherbibel, die die Apokryphen enthält. Denn dieser Anfang ist – wie das Wort und die Weisheit selbst – sehr schön.
Alle Weisheit kommt vom Herrn und ist bei ihm in Ewigkeit.
Wer kann sagen, wie viel Sand das Meer, wie viel Tropfen der Regen und wie viel Tage die Welt hat?
Wer kann erforschen, wie hoch der Himmel, wie breit die Erde, wie tief das Meer ist?
Wer kann die Weisheit ergründen? Denn die Weisheit ist vor allem geschaffen; Verstand und Einsicht sind von Ewigkeit her.
Das Wort Gottes in der Höhe ist die Quelle der Weisheit, und sie verzweigt sich in die ewigen Gebote.
Wem wurde die Wurzel der Weisheit aufgedeckt, und wer kann ihre Pläne erkennen?
Wem wurde das Wissen um die Weisheit offenbart, und wer hat die Fülle ihrer Erfahrung erfasst?
Einer ist’s, der ist weise und sehr zu fürchten; er sitzt auf seinem Thron. Der Herr selbst hat die Weisheit geschaffen und gesehen und hat sie gemessen und hat sie ausgeschüttet über alle seine Werke und über alles Fleisch nach seinem Gefallen und gibt sie denen, die ihn lieben.
Gott lieben, das ist die allerschönste Weisheit. Und er gewährt sie, denen er sich zeigt, sodass sie ihn schauen.

Ich wünsche Ihnen Weisheit. Biblische Weisheit wünsche ich Ihnen. Wie Sie merken, hat die nichts mit Wissen und Bildung zu tun, wohl aber mit Gott. .
Jürgen Kaiser

August 2022

Jubeln sollen die Bäume des Waldes vor dem Herrn, denn er kommt, um die Erde zu richten. (1. Chronik 16,33)

Wenn wir durch Brandenburgs schöne Buchenwälder gehen, hören wir einmal keine Motoren und Menschen. Aber stumm ist die Natur nicht, die Bäume reden mit uns. Wenn ich an einem freien Tag aus der Stadt herausfahre, achte ich gleich zu Beginn einer Wanderung darauf. Jeder Windstoß sagt ein Wort und jede Windböe spricht einen Satz. Mit unterschiedlichem Klang, einmal lauter, dann leiser. Manchmal ist es kaum zu hören. Und ganz selten hören wir, dass nichts zu hören ist und die Bäume kurz innehalten vor dem nächsten Wort. Das kann auch einmal wild und zornig klingen, doch zumeist höre ich Freundlichkeit und Weisheit.
Ob es wohl so ist, dass die Natur uns etwas zu sagen hat? Weist uns der neuerdings sommers brennende Brandenburger Wald auf den Klimawandel hin, schimpft er mit uns und mahnt unsere Politik und Verwaltung zu schnellerem und entschiedenerem Handeln gegen den Klimawandel? Schon vor einer Generation hat das sogenannte Waldsterben für gelindes Erschrecken und gewisses Umdenken gesorgt. Die sterbenden Bäume hatten der Gesellschaft etwas zu sagen. Wie könnten wir davor die Ohren verschließen?
Zunächst aber, weiß der Glaube, spricht die Natur und sprechen die Bäume in ihrer Weise von ihrem Schöpfer. Und da sieht die Bibel die Natur ganz anders als sonst: Die Bäume jubeln, wie unser Monatsspruch für August es sagt, oder klatschen in die Hände (Jesaja 55,12). Und ein deutscher Dichter kann das dann so weiterdichten: „Mich, ruft der Baum in seiner Pracht, mich, ruft die Saat, hat Gott gemacht. Bringt unserem Schöpfer Ehre!“ Durch dieses Lied in unserem Gesangbuch werden wir hineingenommen in das große Gotteslob, das die Natur singt.
Nicht nur, wenn ich an die menschengemachten Verheerungen in der Natur denke, auch durch andere Krisen und Katastrophen wird mir der Mund verschlossen, und mir fällt es schwer, den Schöpfer zu loben. Aber auch im Krieg blüht die Natur! Und zeugt von der Hoffnung auf Frieden. Sie spricht dann nicht nur zu uns, sondern jubelt auch an unserer Stelle, für die Menschen, deren Jubel verstummt ist. Der Jubel ist aber der Grundton des Glaubens. So schreibt es der französische Soziologe Bruno Latour in seinem vor zwanzig Jahren erschienenen Buch über religiöse Rede; unter dem Titel „Jubiler“ („Jubilieren“) denkt er darüber nach, dass Glaubende Wörtern vertrauen, sie wiederholen, mit ihnen leben und feiern. In gewissem Sinne tut das auch die Natur: Gottes Schöpfungswort wiederholen und feiern. Und darum kann die Natur uns im Jubeln vertreten und uns mit ihrem Jubeln anstecken.
Der Jubel hat einen Grund: Gott kommt, die Erde zu richten. Gott wird unsere Erde in Ordnung bringen so, dass sie seinem guten Willen entspricht. Dazu wird böses Denken und Tun so genannt, wie es ist: böse. Unsere sofort vorgebrachten Entschuldigungen können einmal ausbleiben. Und das Gute wird uns ans Herz gelegt. So richtet Gott die Erde und uns Erdlinge. „Jubeln sollen die Bäume des Waldes vor dem Herrn“, Brandenburgs Buchen, der Birnbaum in Ribbeck, die hugenottischen Maulbeerbäume. Und unter den Bäumen wir.
Karl Friedrich Ulrichs

Juni 2022

Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod. (Hoheslied 8,6)

Das Hohelied ist das einzige biblische Buch, in dem Gott nicht erwähnt wird. Es ist eine Sammlung weltlicher Liebeslyrik. Aber Siegel kommt in diesem Vers aus dem Hohenlied zweimal vor. In der Antike waren Siegel oft Rollsiegel aus Ton mit einem Loch, so dass man sie um den Hals oder den Arm binden konnte, damit sie niemand klaut. Früher trugen Liebende ein Medaillon mit einem Bildnis der Geliebten oder des Geliebten um den Hals.
Das Protokollbuch, das als Gründungsurkunde unserer Gemeinde gilt, hat kein Siegel. Protokollbücher haben so was nicht. Aber es beginnt, indem es den Namen Gottes nennt und anruft. Es ist ja keine Sammlung weltlicher Liebeslyrik, sondern das Dokument der Beratungen darüber, welche Wege Gott wohl mit seiner Kirche zu gehen gedenkt. JK

Mai 2022

Ich wünsche dir in jeder Hinsicht Wohlergehen und Gesundheit, so wie es deiner Seele wohlergeht. (3. Johannesbrief 2)

Gute Wünsche
Gute Wünsche haben Platz auch auf der kleinsten Karte. Wer dir Gutes wünscht, meint es gut mit dir. Und auch die eigenen guten Wünsche für andere zeigen, dass wir miteinander verbunden bleiben. Darum schreiben wir unsere guten Wünsche an das Ende unserer Briefe – wenn wir denn noch Briefe schreiben. In unseren Mails ersetzen wir die guten Wünsche gerne durch ein entsprechendes Icon wie dem gelben Gesicht, das ein rotes Herz an sich drückt. Das ist dann gleich die Darstellung der Beziehung und der Empfänger oder die Empfängerin kann sich selbst denken, was ihm oder ihr da Gutes gewünscht wird.
Solche guten Wünsche zu formulieren, ist nicht ganz einfach. Es soll konkret sein und variantenreich. Ein schlichtes „Alles Gute“ wirkt rasch bloß dahingeworfen und unpersönlich und beziehungsschwach. Das hat sich wohl auch ein biblischer Autor gedacht, von dessen kurzem Brief an einen gewissen Gaius Sie vermutlich noch gar nichts wussten. Oder haben Sie schon einmal im sogenannten dritten Johannesbrief gelesen? Wussten Sie, dass es den gibt? Er kommt im kirchlichen Leben ja nicht oft vor; ich habe in über zwanzig Jahren Pfarramt noch nie ein Wort aus dem dritten Johannesbrief auslegen müssen. Und nun also die guten Wünsche aus diesem weithin unbekannten Text der Bibel. Die guten Wünsche stehen gleich am Anfang. Und da wird es interessant!

Ich wünsche dir in jeder Hinsicht Wohlergehen und Gesundheit, so wie es deiner Seele wohlergeht. (3. Johannesbrief 2)

Die guten Wünsche nehmen Maß. Und zwar bei der Seele des Gaius; der geht es gut, weil Gaius glaubt. Das empfindet auch Gaius selbst so. Und am Glauben als Wohlergehen der Seele bemisst sich jeder gute Wunsch. Daran gewinnt jeder Wunsch seine Kraft. Seelisch geht es dir gut, du glaubst – so soll und so wird es auch sonst bei dir sein: mit deinem Körper, auch in deinen Beziehungen.
Dass du von Corona verschont bleibst oder deine Infektion dann gut überstehst, so wie es ja auch deiner Seele wohlergeht!
Dass du in Frieden lebst, so wie es ja auch deiner Seele wohlergeht!
Dass du dich frei fühlst und ohne Zwänge und Druck lebst, so wie es ja auch deiner Seele wohlergeht!
Dass du mit starken Persönlichkeiten zusammenlebst, so wie es ja auch deiner Seele wohlergeht!
Dass du eine interessante und herausfordernde Arbeit hast, so wie es ja auch deiner Seele wohlergeht!
Dass du Erfolg im Beruf und auch sonst hast, so wie es ja auch deiner Seele wohlergeht!
Ein Leben im Gleichklang mit dem Wohlergehen der Seele – der diese Wünsche an Gaius und an uns schreibt, weiß: Das Leben ist zumeist anders. Aber wenn beim „Wohlergehen und Gesundheit“ Wünsche offenbleiben, widerspricht das nicht dem Glauben, in dem es der Seele wohlergeht. Wir sollen vielmehr, meint der biblische Postkartenschreiber, umgekehrt vom Glauben her auf unser gesamtes Leben sehen. Hier hat uns Gott seinen Geist geschenkt und uns gesegnet. Wir vertrauen, dass Gott auch „in jeder Hinsicht“ so an uns handeln wird.
Der Mai ist Gottes guter Wunsch an uns: Wohlergehen und Gesundheit, so wie es unserer Seele seit Ostern wohlergeht. Allerdings müsste der Mai dazu wieder der Monat des Kriegsendes, der Befreiung und des Friedens werden. Gebe Gott das!
Mit herzlichem Gruß in den Mai,
Ihr Karl Friedrich Ulrichs

April 2022

Maria von Magdala kam zu den Jüngern und verkündigte ihnen: Ich habe den Herrn gesehen. Und sie berichtete, was er ihr gesagt hatte. (Johannes 20,18)

In Mariupol gibt es unweit des Bahnhofs, der direkt am Meer liegt, einen Stadtgarten. Man findet ihn beim Überflug schnell. Die Bäume tragen volles grünes Laub. Internetreisen in ferne Gegenden mit der Maus auf Google Maps sind trügerisch. Sie zeigen das Land und die Orte immer bei Sonnenschein in saftigem Grün. Um den Stadtpark mit seinen grünen Bäumen sind alle Häuser intakt, die meisten haben graue Dächer, einige rote. Westlich taucht das Stadion auf und nördlich das Theater. Auch um das Theater gibt es einen kleinen Park mit einem Rondell.
So sieht es jetzt dort nicht mehr aus. Statt den Farben grau, braun, grün und ein bisschen rot wird man wohl viel schwarz zu sehen bekommen, wenn die Satellitenbilder aktualisiert werden. Schwarz vom Ruß der verbrannten Häuserruinen und aufgewühlte Erde von den Bombentrichtern. Nach allem, was wir aus der belagerten Stadt hören, gibt es dort kaum noch intakte Häuser, das Theater wurde weggebombt und aus dem Stadtgarten ist wahrscheinlich ein Friedhof geworden, denn der große städtische Friedhof liegt am Stadtrand. In Schussweite russischer Panzer kann man nicht gut die Toten begraben. Und Tote müssen sie dort begraben. Viele Tote, voraussichtlich auch an Ostern noch.
„Maria stand draußen vor dem Grab und weinte“ (Joh 20,11). So beginnt einer der Texte, die wir an Ostern hören. Ostern ist ein Fest der Freude. Aber die Freude kommt nicht aus dem Nichts, sie kommt nicht wie eine Sternschnuppe von oben. Sie kommt von unten aus der Erde, aus einem leeren Erdloch, sie kommt aus der Trauer und dem Entsetzen.
Maria aus Magdala trauert um ihren Freund Jesus. Sie sucht früh am Morgen sein Grab auf. Das Grab ist in einem Garten nahe bei der Stadt. Es ist leer. Maria glaubt, man habe den Leichnam weggeschafft. Ein Mann spricht sie an und fragt, wen sie suche. Sie fragt ihn, den sie für den Gärtner hält, wo er ihn hingebracht habe. Da spricht der Mann sie mit Namen an: „Maria!“ Später dann ging Maria zu den Jüngern und sagte ihnen, sie habe Jesus gesehen.
Die improvisierten Gräber in den Gärten und Parks von Mariupol sind voll und werden immer voller. Ob die Frauen, die dort um ihre Freunde trauern, auch einmal wieder wie Maria von diesen Orten loskommen werden, um anderen etwas wunderbar Glückliches zu sagen? Ob die Mütter, die dort um ihre Söhne weinen, sich auch wieder von den Lebenden werden angesprochen fühlen? Ob die Menschen in Mariupol und Charkiw, in Butscha und Cherson einmal wieder glauben werden, dass Gott den Tod besiegt hat?
Ich wünsche es ihnen. Der Frühling wird schneller kommen als der Frieden. Frisches Grün wird über den Gräbern im Stadtgarten schneller wachsen als die seelischen Wunden heilen werden, die dieser Krieg geschlagen hat. Aber der Auferstandene wird sich sehen lassen: Den Lebenden und den Toten.  Jürgen Kaiser

März 2022

Hört nicht auf zu beten und zu flehen! Betet jederzeit im Geist; seid wachsam, harrt aus und bittet für alle Heiligen! (Epheserbrief 6,18)

„Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!“ Klar, in der Kirche wird gebetet. Nicht zufällig ist das sprichwörtlich so: In der Kirche beten sie. Denn wer glaubt, betet. Unser Vertrauen zu Gott will sich doch irgendwie aussprechen. Das Gebet ist „das vornehmste (also: schönste) Stück der Dankbarkeit“, die wir im Glauben Gott gegenüber empfinden – so formuliert es der Heidelberger Katechismus. Aber was so selbstverständlich daherkommt – ist es das bei uns?
„Hört nicht auf zu beten und zu flehen! Betet jederzeit im Geist; seid wachsam, harrt aus und bittet für alle Heiligen!“
Hört nicht auf – das setzt ja auch voraus, dass wir Christen beten, im alten Ephesus und heute in Berlin. Glücklich die, denen das gelingt – zu Tisch wie in der Kindheit gelernt, aber auch sonst, vielleicht am Morgen oder abends: Einige Augenblicke und Atemzüge, um einmal zur Ruhe zu kommen und zur Besinnung, sich einmal auszusprechen vor Gott – oder auch einfach einmal zu schweigen und die Stille im Raum und in mir zu genießen – auch das kann ein Gebet sein; Gott weiß ja, was wir brauchen.
Wer betet, hält die Augen offen. Wir sollen vor dem Beten wachsam sein, in die Welt schauen. Hier finden sich Gebetsanliegen ohne Ende: Was uns berührt und bedrückt. Politisches und Persönliches. Aktuelles und die immer gleichen großen Fragen nach dem Leid oder nach der Gerechtigkeit, die uns wie alte Freunde durchs Leben begleiten.
Aber mit einem Gebet und einigen Momenten ist es nicht getan, das Beten. Schon in der Gemeinde in Ephesus fehlt es an Geduld. Die brauchen sie und wir aber – Geduld mit uns selbst, mit Gott und der Welt. Im Gebet pflegen wir unsere Sehnsucht, dass sich das Leben nach Gottes Willen ändert. Für Gebet und Sehnsucht brauchen wir einen langen Atem.  
Aber die im Monatsspruch genannten Heiligen stören dich? Damit sind keine Heiligen im katholischen Sinne gemeint, sondern die anderen Glieder der Kirche. Und das ist doch schön: Wir können füreinander beten. Bedenke, wer neben dir sitzt zu Hause am Tisch und zwei Reihen vor dir in der Kirche und wessen Platz leer ist – und du hast genug zu beten. Aber vergiss dich selbst auch nicht!
„Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!“ Klar, in der Kirche wird gebetet. In jedem Gottesdienst, gesprochen, gesungen und geschwiegen. Und dieses Gebet nimm mit nach Hause. Und in den März. Karl Friedrich Ulrichs

Februar 2022

Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen. (Epheserbrief 4,26)

Das ist mal ein guter Rat! Er ist mir schon vor längerem über den Weg gelaufen. Seither gehört er zu meinem Kernbestand an gutem Rat. Ich erinnere mich allerdings vor allem dann an ihn, wenn es mir mal wieder nicht gelungen ist, meinen Zorn vor Sonnenuntergang zu besänftigen, oder wenigstens bevor ich zu Bett gehe.
Der Rat ist auch deshalb ein guter Rat, weil er realistisch ist. Die Ratschläge der Bibel sind ohnehin meist viel besser als die Ratschläge der Lebensratgeber in der Esoterikabteilung bei Dussmann. Dieser Rat erlaubt es dir - das muss man ja mal festhalten - zornig zu werden, wenn es sein muss. Die Bibel verlangt also keineswegs von dir, dass du dir das abgewöhnst oder abtrainierst, was manche heute negative Energien nennen. Du musst gar keiner von denen werden, an denen alles abprallt und die immerzu lächeln. Das sieht sowieso unnatürlich und komisch aus. Wenn du aber mal wütend und zornig bist, dann sollst du darauf achten, nicht zu sündigen. Keiner soll Opfer deines Zornes werden. Da liegt der Hund begraben. Wohin mit seiner Wut, wenn man seinen Zorn nicht an anderen auslassen will? Ich kannte eine alte Frau, die musste hin und wieder allein in den Wald gehen, um laut zu schreien. Andere hauen mit der Faust gegen die Wand oder zerdeppern Teller. Man kann auch joggen gehen. Das ist eine gesündere und weniger kostspielige Art der Wutbewältigung.
Manchmal machen einen Dinge wütend: Das Auto, das nicht anspringt, der Fahrstuhl, der immer kaputt ist. Meist aber sind es Menschen, die einen zur Weißglut bringen. Da soll sich der Zorn nicht versteifen, soll sich nicht zum Ressentiment auswachsen und zu einer permanenten Haltung der Ablehnung werden. Deshalb sollte man es mit seinem Zorn auch mal wieder gutsein lassen und sich mit dem zornauslösenden Mitmenschen aussprechen. Das gilt vor allem bei Menschen im engen persönlichen Kontakt, in der Familie und bei Freunden. Lass die Sonne nicht über deinem Zorn untergehen!
Wenn mich allerdings im beruflichen Kontext etwas ärgert, versuche ich, erst die Sonne untergehen zu lassen und drüber zu schlafen, bevor ich reagiere. Am andern Tag hat sich oft schon viel von dem Zorn verflüchtigt und die Gefahr ist gebannt, dass ich in meinem Zorn sündige. Jürgen Kaiser

Jahreslosung für 2022

Jesus Christus spricht: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ (Johannes 6,37)

Kommen und sehen

Der Jahresanfang ist die Zeit für Neugierige. Was wird das neue Jahr bringen an Veränderungen? Was wird besser? Die pandemische Lage doch wenigstens! Was steht zu befürchten? Dass das Virus uns noch länger gefährdet und einschränkt. Was darf so bleiben, wie es ist, nämlich gut? Wer allzu pessimistisch gestimmt ist, quält sich durch die ersten Tage des neuen Jahres und ist verunsichert dadurch, dass noch nicht zu erkennen ist, wie es wird. Mit Vertrauen aber in das Leben und in den, der es uns gibt, werden wir das Gute sehen, das uns erwartet, das Gott uns geben wird.
Wer etwas sehen will, muss kommen, näher herantreten, um sehen zu können. Jesus ruft darum seine ersten Jünger: Kommt und seht! (Johannes 1,39) Jesus ruft die, die nach seiner „Herberge“ fragen, die danach fragen, wo er wohnt. Er ruft die, die von ihm das Rätselwort vom „Lamm Gottes“ gehört haben, in seine „Herberge“. Von dieser wird aber merkwürdigerweise nichts weiter berichtet. Der Evangelist Johannes liebt es, die Dinge paradox darzustellen: Es ist nicht so, dass Jesus in seiner „Herberge“ ist, sondern wohl so, dass wir eine Herberge da finden, wo Jesus ist. Bei ihm finden wir den Ort, an dem wir uns bergen können. Jesus ruft uns ins neue Jahr, das wie alle Zeit sein Jahr ist, ein „Jahr des Herrn“, und in seine Herberge. Wir können auch im kommenden Jahr bei ihm zu Gast sein. Die Zeit kommt uns aus der Zukunft entgegen, kann uns fremd und bedrohlich erscheinen. Wir leben sozusagen gegen die Fließrichtung der Zeit. Mit aller Zeit können wir das neue „Jahr des Herrn“ auf uns zukommen lassen und mit Vertrauen in es hineingehen.
Wer etwas sehen will, muss kommen. Und umgekehrt: Wer zu Jesus kommt, der wird dann auch etwas zu sehen bekommen: einen Menschen, der mich annimmt, mich anerkennt. Der Philosoph Axel Honneth hat dargelegt, wie wir von solcher Anerkennung leben. Der uns zu sich ruft, erkennt uns an als die, die zu ihm kommen mit dem, was sie tragen, und dem, wonach sie fragen. Und er unterlässt ganz sicher, was wir als stille Angst in uns tragen, nämlich abgewiesen zu werden. Das verspricht uns – ebenfalls aus dem Johannes-Evangelium (6,37) – die Jahreslosung für 2022: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Dass Sie damit gewiss und gerne ins neue „Jahr des Herrn“ gehen!
Karl Friedrich Ulrichs

Dezember 2021

Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und will bei dir wohnen, spricht der Herr. (Sacharja 2,14)

Wo wohnt Gott? Darauf fallen mir viele Antworten ein: Gott wohnt im Himmel, Gott wohnt in den Herzen der Gläubigen, Gott wohnt überall in dieser Welt, Gott wohnt dort, wo sein Name genannt wird, Gott wohnt in seinem Volk Israel, Gott wohnt in Jesus Christus, Gott wohnt in seinem Wort. Auf die eine oder andere dieser Antworten laufen die meisten Predigten auf die eine oder andere Weise hinaus.
Die ungewöhnlichste seiner Adressen wird kaum ernsthaft in Erwägung gezogen, obwohl wir sie im Advent in den Gottesdiensten freudestrahlend besingen: Gott wohnt bei der Tochter Zion.
Zion ist Gottes Adresse in Jerusalem. Auf dem Zionsberg steht der Tempel. 70 Jahre nach der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier soll er wieder aufgebaut werden. Dann wird Gott wieder in Jerusalem wohnen. Diese freudige Nachricht überbringt Sacharja den Einwohnern Jerusalems.
In der prophetisch poetischen Literatur wird Jerusalem oft personifiziert, immer als Frau, mal als Witwe und verlassene Mutter, mal als Hure und Ehebrecherin, mal als Tochter mit dem schönen Namen „Zion“ oder gar als Braut Gottes.
Gott kündigt also an, seinen Wohnsitz wieder in Jerusalem einnehmen zu wollen, wenn der Tempel wieder aufgebaut sein wird.
Die anderen genannten Wohnsitze und viele mehr gibt er damit aber nicht auf. Gott wohnt nicht ausschließlich im Tempel auf dem Zionsberg. Er ist auch im Himmel und bei denen, die ihn fürchten. Deshalb ist Gott nicht wohnungslos geworden, als auch der zweite Tempel zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde.
Allerdings haben seine anderen „Wohnungen“ etwas Ortloses, etwas Utopisches („Utopie“ heißt wörtlich: „kein Ort“). Da ist nichts Reales in dem Sinn, dass man eine Hausnummer drannageln könnte. Wo ist eigentlich der Himmel, in dem Gott ist? Wie greifbar ist ein Gott, der da ist, wo seiner gedacht und sein Name genannt wird?
Am Ende der Bibel wird das Problem verblüffend einfach gelöst. In einer Vision kommen der abstrakte Himmel und das konkrete Jerusalem dadurch zusammen, dass Jerusalem aus dem Himmel auf die Erde kommt. Natürlich wohnt Gott in diesem neuen Jerusalem, aber nicht im Tempel. Es gibt in dieser himmlisch geerdeten Stadt keinen Tempel, auch keine Kirche und keine Moschee. Und kein Golgatha. Jedoch ein Zelt! Gott wohnt mitten in der Stadt, allerdings nicht in einem bewachten schicken Townhouse-Appartement, sondern im Zelt. Dieses Bild sollten wir vor Augen haben, wenn wir im Advent singen: „Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir.“
Jürgen Kaiser

November 2021

Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und auf das Warten auf Christus. (2. Thessalonicher 3,5)

Lange haben wir gewartet. Nach dem Auszug aus unserer Kirche im Februar vergangenen Jahres kam der Frühling und mit ihm die Pandemie und der Lockdown, dann ein etwas freierer Sommer, der Herbst und Winter, der uns viel Geduld abverlangte, danach wieder ein Frühling, schließlich der Sommer, in dem schon wieder mehr möglich war durch die Impfungen. Sonntags feierten wir unsere Gottesdienste in der Kulturkirche St. Matthäus und in Halensee. Unsere Kirche wurde derweil saniert – zunächst ganz nach Plan, nur am Ende wollte sie nicht so recht fertig werden. Monate kamen dazu und dann weitere Wochen. Lange haben wir gewartet, dass wir wieder in unsere Kirche können; am 3. Oktober war es dann soweit. Unser erster Gottesdienst am Gendarmenmarkt hat mich sehr bewegt. Und am 28. November gibt es einen großen Festakt.
Noch mehr spannte die Sanierung unserer Gemeinde- und Verwaltungsräume und unseres Museums unseren Geduldsfaden. Auch hier mussten wir warten und warten. Aber zum Refugefest am 29. Oktober wurde das Museum feierlich wiedereröffnet und unsere Räume im Französischen Dom können wir bald danach beziehen.
Im Warten sind wir also geübt – und lesen so den biblischen Spruch für den Monat November:

Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und auf das Warten auf Christus. (2. Thessalonicher 3,5)

Sehen wir im Glauben auf unsere Welt und unser eigenes Leben, spüren wir, dass unser Herz unruhig ist – so hat es der Kirchenvater Augustinus einmal geschrieben. Zuviel steht noch aus, worauf wir hoffen an Gerechtigkeit und Glanz in der Welt. Da ist es gut und beruhigt das unruhige Herz, wenn unsere Herzen ausgerichtet werden, eine Richtung bekommen, nicht herumirren. Wohin das Herz strebt, wonach es sich sehnt, bleibt dann nicht im Ungewissen: Nach Liebe sehnen wir uns, nach der Erfahrung, angenommen zu sein, um unser selbst willen interessant und wichtig und schön gefunden zu werden. So begegnet uns Gott. Und er begegnet uns in Jesus. Auf ihn warten wir Jahr um Jahr in der Adventszeit. Und schon im November, wenn Jahreszeit und Kirchenjahr uns ernstere Gedanken zumuten. Für diese letzten Wochen des Kirchenjahres hat Philipp Friedrich Hiller (1699-1769) ausgehend von einem biblischen Wort (Titus 2,13) ein Lied gedichtet, in dem es um das Warten geht (wenn Sie es ganz nachlesen wollen – Sie finden es im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 152):
Wir warten dein, o Gottessohn,
und lieben dein Erscheinen.
Wir wissen dich auf deinem Thron
und nennen uns die Deinen.
Wer an dich glaubt,
erhebt sein Haupt
und siehet dir entgegen;
du kommst uns ja zum Segen.
Wir warten dein; du hast uns ja
das Herz schon hingenommen.
Du bist uns zwar im Geiste nah,
doch wirst du sichtbar kommen.
Da willst uns du
bei dir auch Ruh,
bei dir auch Freude geben,
bei dir ein herrlich Leben.
Warten fällt schwer, nicht nur den ungeduldigen Typen wie mir. Und doch ist Warten kostbar. Warten birgt neben der Sehnsucht und dem Schmerz an der ausstehenden Erfüllung auch das Wissen, wem wir gehören. Und im Warten spüren wir die Ruhe und die Freude. So verwandelt uns das Warten schon und in den kargen November fällt das Licht herrlichen Lebens. Und ich sehe: Nicht meine Ungeduld ist die Feindin des Wartens, sondern die Hoffnungslosigkeit. Daraus befreit uns der Glaube auch im November. Karl Friedrich Ulrichs

Oktober 2021

Lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken. (Hebräerbrief 10,24)

Bei diesem Wort habe ich sehr gemischte Gefühle. Einerseits gefällt mir die Aufforderung, dass wir aufeinander achten sollen. Eine Gemeinde ist ja erst dann eine christliche Gemeinschaft, wenn jeder zum Seelsorger oder zur Seelsorgerin des anderen wird. Wenn jede sich für die andere interessiert, jeder auf den anderen achthat, sich nach ihm erkundigt und nach der Frage: „Wie geht es dir?“ tatsächlich hört, was die Gefragte zu sagen hat und nicht nur auf eine Gelegenheit lauert, vom eigenen Ungemach zu berichten. Aufeinander achthaben, das erfordert manchmal ganz schön viel Mut. Man muss aushalten, was die anderen erzählen, bei ihnen bleiben, nicht flüchten vor unangenehmen Themen, nachfragen und manchmal auch Schweigen aushalten.
Andererseits frage ich mich, ob die Aufforderung, aufeinander achtzuhaben, nicht auch die Aufforderung zu gegenseitiger Kontrolle meint. Sollen wir etwa auch darauf achten, ob sich der Nachbar ungebührlich verhält? Sollen wir einschreiten, wenn er am Sonntag den Rasen mäht oder sein Auto wäscht? Es melden, wenn in der Wohnung unter mir immer rumgeschrieen wird?
Der zweite Teil der Aufforderung aus dem Hebräerbrief lässt vermuten, dass es beim Aufeinander Achthaben nicht nur um seelsorgerliche Empathie geht. Wir sollen aufeinander aufpassen und uns gegenseitig zu guten Werken und zur Nächstenliebe anspornen. Das mag zunächst unverdächtig klingen, aber Menschen, die im realexistierenden Sozialismus lebten, werden an dieser Stelle hellhörig. Der Sozialismus wollte mit einer alles durchdringenden Sozialkontrolle den sozialistischen Menschen schaffen. Das hat aber am Ende zu nichts anderem geführt, als zu Angst, Verlogenheit und Heuchelei.
Aufeinander achthaben und zur Liebe und zu guten Werken anspornen - das könnte auch das Motto für das sein, was Calvin in seiner Genfer Gemeinde versuchte und was in der Kirchengeschichte unter dem fürchterlichen Titel „Kirchenzucht bei Calvin“ firmiert. Alle sollten sich gegenseitig im Auge haben, Älteste die Menschen in den ihnen zugewiesenen Quartieren im Blick haben, um sich gegenseitig zu ermahnen. Besonders schwere und renitente Fälle von Unsittlichkeit wurden vor dem Kirchenrat verhandelt. Seit langem schon wird darüber gestritten, ob das alles mehr unter dem Gesichtspunkt der Seelsorge, der Nachbarschaftshilfe, der Streitschlichtung, der Versöhnungs- und Friedensarbeit zu sehen ist oder mehr unter dem Gesichtspunkt der Sozialkontrolle und Bespitzelung und als Versuch zu werten ist, mit unheiligen Mittel ein heiliges Gemeinwesen zu errichten. Noch vor wenigen Jahren veröffentlichte der Schweizer Historiker Volker Reinhardt eine Untersuchung zur Genfer Reformation unter dem programmatischen Titel: „Die Tyrannei der Tugend“. Möglicherweise hat Calvin das erste gewollt, aber das zweite erreicht.
Wir leben heute nicht mehr in einem christlichen Gemeinwesen. Wir können unseren Nachbarn nicht mit dem Hinweis auf das Sabbatgebot daran hindern, am Sonntag sein Auto zu waschen. Wir können es aber selber sein lassen, und Vorbild sein. Wir müssen heute die beiden Teile der Aufforderung aus dem Hebräerbrief deutlich voneinander unterscheiden: Aufeinander achthaben und empathisch mitein-ander umgehen ist das eine, Anreiz zum guten Tun zu geben durch eigenes vorbildliches Handeln ist das andere. Jürgen Kaiser

September 2021

Mit dem, was wir tun, erreichen wir zumeist, was wir wollen. Umso frustrierter sind wir, wenn der Erfolg ausbleibt, wenn wir vergebens unterwegs waren, uns erfolglos bemüht haben. „Unser Leben währet siebzig Jahre, wenn es hochkommt, so sind es achtzig, und was daran köstlich erscheint, ist doch nur vergebliche Mühe“ – diese biblische Traurigkeit aus Psalm 90 hören wir oft bei Trauerfeiern. Kein Menschenleben ohne Misserfolg und kein Mensch, der nicht das graue Gefühl der Vergeblichkeit kennt. Davon können wir ein Lied singen, das so lauten könnte:

Ihr sät viel und bringt wenig ein;
ihr esst und werdet doch nicht satt;
ihr trinkt und bleibt doch durstig;
ihr kleidet euch, und keinem wird warm;
und wer Geld verdient, der legt es in einen löcherigen Beutel. (Haggai 1,6)

Diese Litanei stammt aus dem Jahr 520 vor Christus und aus dem Mund des alttestamentlichen Propheten Haggai. Auch vor zweieinhalbtausend Jahren machten Menschen die Erfahrung von Vergeblichkeit. Diese Zeilen sind der Monatsspruch für den September und lassen sich heute leicht fortschreiben:
Ihr kauft viel und habt doch immer nur kurz das neueste Handy.
Ihr geht zwölf Jahre zur Schule und doch vermisst ihr eine Bildung, die euch orientiert.
Ihr lasst euch von Musik berieseln und in euren Herzen klingt kaum etwas.
Ihr lasst euch impfen und tragt den Mund-Nasen-Schutz und in der Tagesschau plagen euch die steigenden Inzidenzzahlen unendlich mehr als die fallenden Temperaturen.
Ihr bringt viele Soldaten und Entwicklungshelfer nach Afghanistan und schafft dort doch keine freie und befriedete Gesellschaft.
Vieles, was wir persönlich oder politisch machen, ist vergeblich. Und darum klagen wir einander an: unsere Konsumgesellschaft – als gehörten wir nicht dazu! – und die Politik – als wären wir nicht Bürger/innen mit aktivem und passivem Wahlrecht! Anklagen und Vorwürfe sind wohl eine Strategie, Vergeblichkeit zu verarbeiten. Es ist ja auch nur schwer auszuhalten, wenn unsere Bemühungen so wenig erreichen. Damit lebt es sich besser, wenn wir jemand anderem vorwerfen können, sich nicht genug bemüht oder falsch gehandelt zu haben.
Haggai hat solche Bewältigungsstrategien nicht nötig, aber auch er benennt einen Grund für unsere Vergeblichkeitserfahrungen: Wir geben Gott keinen schönen und zentralen Platz in unserem Leben. Seinen Zeitgenossen wirft Haggai vor, die eigenen in Krieg und Besatzung zerstörten Häuser aufzubauen, nicht aber an den Wiederaufbau des Tempels zu denken. Und er spricht streng in Gottes Namen: Der unwillkommene und unbehauste Gott Israels werde in alles Menschenwerk „hineinblasen“, sodass alle Mühe umsonst ist. Gott werde aber vom wiederaufgebauten und geschmückten Tempel aus, in dem er unter seinem Volk wohnt, mit Segen nicht geizen. Was seine geliebten Menschen tun werden, wird gelingen.
Bei allem Machen, bei aller Arbeit und gerade auch in Erfahrungen von Vergeblichkeit mich einmal unterbrechen lassen von der Frage, wo Gott einen Platz hat in meinem Leben, in unserer Stadt, in allem Getümmel, ist eine heilsame Provokation, die ich mir von Haggai für den September mitgeben lasse.          Karl Friedrich Ulrichs

August 2021

Neige, HERR, dein Ohr und höre! Öffne, HERR, deine Augen und sieh her! (2. Könige 19,16)

Wie können wir beten? In brenzliger militärischer Lage kommt König Hiskia in den Tempel von Jerusalem und betet. Sanherib, der Großkönig von Assur, lässt Jerusalem belagern, die Verhandlungen mit seinen Unterhändlern sind gescheitert, der König holt Rat von Jesaja, dem Propheten, ein. Der kann den König beruhigen: Gott wird auf den Assyrer einwirken, dass der die Belagerung beendet und unverrichteter Dinge abzieht. Doch dann kommt wieder eine bedrohliche diplomatische Note aus Assyrien: Hiskia solle sich nicht auf seinen Gott verlassen. Das habe den anderen Königen, deren Reiche schon erobert worden sind, auch nichts genützt. Deren Götter konnten auch nicht helfen. Als Hiskia diese Drohung liest, geht er sofort in den Tempel, um zu beten: Herr, Gott Israels, der du über den Cherubim thronst, du bist allein Gott über alle Königreiche auf Erden, du hast Himmel und Erde gemacht. Herr, neige deine Ohren und höre; Herr, tu deine Augen auf und sieh und höre die Worte Sanheribs, der hergesandt hat, um dem lebendigen Gott Hohn zu sprechen. (2.Kön 19,15-16)

Wie können wir beten? Die Bibel zeigt es: Zunächst macht Hiskia Gott sehr groß. In der Anrede huldigt er seinem Gott, der über allem steht. Dann bittet er um Aufmerksamkeit für sein Anliegen und weist auf die geringschätzenden Worte Sanheribs hin, um Gottes Eifer zu entfachen.
Wie können wir beten? Viele meinen, sie können es gar nicht. Manche können nicht beten, weil sie nicht an Gott glauben. Andere können nicht beten, weil sie nicht wissen, wie sie mit Gott reden sollen. Sie denken, er wisse ja doch schon alles, er sehe alles, ihm könne nichts entgehen. Wenn wir beten und ihn an etwas erinnern – würde er nicht denken, wir hielten ihn für vergesslich? Wenn wir beten und ihn auf etwas aufmerksam machen – würde er nicht denken, wir hielten ihn für blind? Wenn wir beten und ihm etwas erklären – würde er nicht denken, wir hielten ihn für ignorant? Widerspricht das Beten nicht dem Glauben an einen allwissenden, alles verursachenden und alles vorhersehenden Gott?
Wer so von Gott denkt, könnte tatsächlich Beten für sinnlos halten. Die Bibel denkt ganz anders von Gott. Sie sieht in ihm einen menschlichen Gott. Gott hat Ohren, Gott hat Augen, Gott kann hören, Gott kann sehen. Oder auch nicht: Er hat Ohren, mag aber nicht hören, er hat Augen, schaut aber weg. Vielleicht ist er abgelenkt oder hat grad keine Lust. Vielleicht ist er sauer oder gereizt.
Man kann das allzu menschliche Bild, das die Bibel von Gott malt, für naiv oder gar für primitiv halten. Um aber Mut und Lust zu finden, mit Gott zu sprechen, ist es entscheidend, ein Gegenüber im Sinn zu haben, mit dem wir wie mit einem guten Freund, einer guten Freundin reden können. Zu dem man sagen kann: „Hör mir doch mal zu! Schau doch mal hin! Hast du vergessen, was du mir versprochen hast?“ Dabei muss man Gott gar nicht zunächst als über alles erhabenen König anreden, wie Hiskia das tut. Jesus meint, wir dürften gern auch „Vater“– oder „Mutter“ – zu ihm sagen.
Wie können wir beten? Wir können es, wenn wir uns vorstellen, wir redeten mit einer vertrauten Freundin oder einem vertrauten Freund.
Übrigens hat Gott auf Hiskia gehört und sich dann die Verhöhnungen durch Sanherib nicht bieten lassen. Der Engel des Herrn ging in der Nacht durch das Lager der Belagerer und tötete viele Soldaten. Manche sehen darin einen Hinweis auf eine Seuche, die die Assyrer zum Abzug zwang. Jürgen Kaiser

Juni 2021

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. (Apostelgeschichte 5,29)

Dieser Satz ist klar, eindeutig und entschieden. Und auch logisch: Wer an Gott glaubt, kann das ja im Grunde gar nicht anders sehen. Was machte es für einen Sinn, an Gott zu glauben, wenn ich ihm nicht mehr Autorität zubilligte als den Menschen?
Sobald man jedoch anfängt, über den Satz nachzudenken, verschwindet alle Klarheit und es wird kompliziert. Was heißt denn, Gott gehorchen? Wo erfahre ich, was Gott von mir will? Heißt Gott gehorchen, die Zehn Gebote befolgen? Oder heißt es, alles zu befolgen, was in der Bibel steht? Bezieht es sich nur auf Gebote, Ratschläge, Ermahnungen oder auch auf Weltbilder und Wissenschaftliches? Heißt, Gott mehr als den Menschen zu gehorchen, etwa auch, die Schöpfungserzählungen, mit denen die Bibel beginnt, wörtlich zu nehmen und die naturwissenschaftlich evolutionäre Sicht der Welt- und Lebensentstehung zu verleugnen? Oder teilt sich Gott im Gewissen mit? Soll ich allein meinem Gewissen folgen? Aber ist mein Gewissen so unabhängig von allem, was Menschen sagen? So klar und eindeutig der Satz daherkommt, so unklar wird er, wenn man anfängt, über ihn nachzudenken.
Der Satz hat auch Sprengkraft. Er könnte die Christen gegen den Staat, gegen Ideologien und Weltanschauungen oder gegen tonangebende Gruppen in Stellung bringen. Er könnte den Widerstand der Christen mobilisieren und ihre Weigerung begründen, bei Dingen mitzumachen, die gegen das sind, was sie von Gott geboten glauben.
Petrus sprach den Satz, als er und seine Apostelkollegen mal wieder vorm Hohen Rat erscheinen mussten, weil sie sich nicht an dessen Predigtverbot gehalten hatten. Sie begründeten ihren Ungehorsam gegenüber den jüdischen Autoritäten mit dem höheren Gehorsam gegenüber Gott. Sicher hat man den Satz im Römischen Reich oft zitiert, immer dann, wenn die Christen verfolgt wurden, Luther hatte ihn oft gegen die Papstkirche ins Feld geführt, und er ermutigte die Hugenotten, die Befehle des Königs zu missachten und an ihrem reformierten Glauben festzuhalten. Auch in der Nazi-Zeit und in der DDR wurde der Satz gehört. Immer dann, wenn das, was Menschen als gültig proklamierten, allzu offensichtlich dem widersprach, was Gott geltend machte.
In unseren Tagen beruft man sich selten auf den Satz. Das muss man nicht bedauern. Es könnte ja sein, dass wir den Satz in unseren Zeiten nicht so nötig brauchen. Christen dürfen sagen, was sie wollen. Es gibt keine Predigt- und Redeverbote. Niemand wird zu einer bestimmten Meinung gezwungen. Darüber hinaus geraten christliche Moral und humanitäre Ethik selten in Widerspruch. Auch wenn die Zeit der Volkskirche vorbei zu sein scheint, leben wir im Grunde in einer christlichen Gesellschaft. Staatstragende Reden des Bundespräsidenten unterscheiden sich kaum mehr von bischöflichen Predigten. Man kann das als Staatsnähe oder Profillosigkeit des deutschen Protestantismus kritisieren. Ich würde es jedoch zuerst als Indiz dafür deuten, dass es auch in unserer säkularen und kirchendistanzierten Gesellschaft einen Grundgehorsam gegenüber den Werten eines menschenfreundlichen und gerechtigkeitsliebenden Gottes gibt. Widerstand aus Gewissensgründen ist – Gott sei Dank – doch nur selten nötig.
Jürgen Kaiser

Mai 2021

Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen! (Sprüche 31,8)

Unrecht verschlägt dir die Sprache, du verstummst, wenn dir Böses widerfährt. Dass das Opfer nicht schreit, nicht klagt, sein Recht nicht einfordert, die erlittene Untat nicht anzeigt – davon leben die Übeltäter. Du bist nur noch Opfer, in dich verschlossen, ohne Stimme. Und du brauchst jemanden, der für dich schreit, wenn du selbst dazu zu schwach bist.
Empathisch ist dieser biblische Rat, der zum Monatsspruch für den Mai avancierte, so empathisch und klug – er könnte von einer weisen Frau sein. Und tatsächlich: Es ist seine Mutter, der Lemuel, der König von Massa, diesen für einen Herrscher alles andere als selbstverständlichen Hinweis auf die Schwachen in der Gesellschaft verdankt. So möchten Mütter, dass ihre Söhne seien: gerecht und lauter. Und welche Königin hätte nicht gerne einen charakterlich noblen Thronfolger? Fragen Sie einmal die Queen!
Ein königlich-kluger Ratschlag also, den ich mir – da ich die Mutter von König Lemuel nicht kenne – aus dem Munde der alten Dame in Windsor und im schottischen Balmoral vorstelle. Wer so lebt und handelt, erweist sich als ein König, edel und frei und anmutig! Lemuel, habe es im Sinn! Charles, denke daran, wenn es an dem ist. Bedenke es, Karl! Und ihr anderen alle auch.
Ein königlich-kluger Ratschlag, der mit dem „Recht aller Schwachen“ das allerorten herrschende Recht des Stärkeren unterläuft. Wenn Schwache weniger Rechte haben (nicht in der juristischen Theorie, sondern im gesellschaftlichen Alltag), dann stimmt etwas nicht. Da muss etwas geschehen. Das bekommt Lemuel, der König lernt, mit auf den Weg. Wenn er als königlicher Richter in Streitfällen entscheiden wird – am Umgang mit denen, die körperlich, finanziell schwach oder sonst wie beeinträchtigt sind, zeigt sich, was für ein Mensch er ist. Und hieran zeigt sich auch, was unser Recht wert ist.
Klar: den Mund zu halten, ist bequem. Aber jemandes Fürsprecher zu sein, ist keine Last, es ist ein Privileg, die eigene Stimme Schwachen leihen zu können, ihnen eine Stimme zu geben. Dadurch verschleiße ich meine Stimme nicht, sondern erlebe mich als wirkungsvoll, machtvoll wie ein König. Der Einsatz und Einspruch für Schwache ist auch eine Aufgabe der Kirche insgesamt. Kirche stellt Öffentlichkeit her für diejenigen, die wenig Gehör finden.
Solidarität mit den Schwachen – dazu brauchen wir unsere Sinne, unsere Gedanken und Gefühle ohne Einschränkungen. Deshalb rät die Königsmutter von Wein und Bier ab. Denn die Könige „könnten beim Trinken das Recht vergessen und verdrehen die Sache aller elenden Leute. Gebt Bier denen, die am Umkommen sind, und Wein den betrübten Seelen.“ Solidarität ist ohne Solidität nicht zu machen. Wenn ich auch über die geforderte Entsagung schmunzele, mir gefällt dieser Königinnenratschlag: Wir sollen wissen, was wann wichtig ist: das laute Wort für die Schwachen, Bier zur Stärkung und Wein als Trost. Na dann … Karl Friedrich Ulrichs

April 2021

Christus ist Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. (Kolosser 1,15)

Zu den ehrenvollsten Aufgaben des Pfarrers in meiner vorherigen Gemeinde in der Pfalz gehörte es, am Nikolaustag in einem roten Kostüm und mit langem, weißen Bart im Gemeindekindergarten zu erscheinen. Nachdem ich das einige Jahre gemacht hatte, kam eines Nikolaustags ein älteres Kindergartenmädchen auf mich zu und sagte vor allen anderen: „Du bist nicht der Nikolaus! Ich weiß, wer du bist.“ Nun ist meine Tarnung aufgeflogen, dachte ich, und da das Mädchen so überzeugt schien, versuchte ich erst gar nicht zu leugnen, sondern fragte frustriert: „Na dann: Wer bin ich?“ Ohne zu zögern antwortete sie: „Du bist der Gott!“
Da war ich doch einigermaßen überrascht. Immerhin hatte das Mädchen, das einen christlichen Kindergarten besuchte, schon ein Gespür dafür, dass unser Gott menschliche Züge trägt. Lediglich in der Zuordnung der menschlichen Züge hatte das Mädchen noch einen gewissen Bildungsbedarf: Nicht Nikolaus ist das Bild des unsichtbaren Gottes sondern Christus.
Wie Juden und Muslime glauben Christen an einen unsichtbaren Gott. Darüber hinaus glauben sie jedoch, dass Gott sich in dem Menschen Jesus Christus geoffenbart hat. Gott hat sich in ihm gezeigt, er identifiziert sich mit ihm und sagt: „Wenn ihr wissen wollt, wer ich bin und wie ich bin, schaut ihn an!“
Das zweite Gebot sagt, wir sollen uns keine Bilder von Gott machen. Damit ist nicht nur gemeint, dass wir uns keine Götterbilder herstellen sollen (goldenes Kalb wie Israel in der Wüste oder Statuen schöner Frauen und Männer wie bei den alten Griechen), sondern wir sollen auch nicht versuchen, uns Gott in Gedanken vorzustellen. Folgt man der Linie des Bilderverbotes konsequent, wird Gott immer abstrakter und ist am Ende eine Art Schwarzes Loch, ein mysteriöses Kraftzentrum, das aber so weit weg ist, dass es für mein Leben hier und jetzt keine Bedeutung hat. An Gott glauben ist aber mehr, als irgendwo sehr weit weg ein Schwarzes Loch zu vermuten. An Gott glauben, heißt, eine Beziehung zu ihm zu haben. Eine Beziehung aber braucht ein konkretes und lebendiges Gegenüber.
Deshalb hat Gott sich von Anfang an, also auch schon im Alten Testament, menschlich gezeigt. Er redet und schweigt, er freut sich und ist traurig, er lacht und zürnt, er liebt und ist enttäuscht und hört nicht auf zu lieben. Christen sehen diese menschliche Seite Gottes in Jesus Christus personifiziert wie in keinem anderen Menschen, weshalb sie sagen: Christus ist Bild des unsichtbaren Gottes. Von Anfang an hatte Gott ihn im Blick und mit ihm die ganze zu versöhnende und zu erlösende Menschheit.
So faszinierend ich den Gedanken finde, dass Gott sich in dem konkreten Menschen Jesus Christus zu erkennen gegeben hat, so sehr verstehe ich, dass diese auf die ganze Menschheit zielende Identifikation nicht für alle Menschen gleichermaßen „barrierefrei“ zugänglich ist. Denn Christus war ein weißer Mann. Warum ist ein weißer Mann Bild des unsichtbaren Gottes und nicht eine schwarze Frau oder ein asiatisch aussehendes Kind?
Gott ist in Christus Mensch geworden. Aber „den Menschen“ gibt es nicht. Es gibt nur einzelne konkrete Menschen. Die sind weiß oder schwarz oder braun, weiblich oder männlich oder divers. Christus ist nur ein Zwischenbild des unsichtbaren Gottes. Wir haben Gott erst gesehen, wenn wir ihn, Christus, in jedem einzelnen Menschen entdeckt haben. Nur einer ist Gott gewiss nicht: ein mit einem roten Mantel und weißem Bart verkleideter Pfarrer.
Jürgen Kaiser